Michael Glawogger konnte sein letztes Werk nicht mehr beenden. Schnittmeisterin Monika Willi sichtete das Material - und montierte daraus ein eindrucksvolles Bildgedicht, das jetzt bei der Berlinale vorgestellt wurde.
Die Berlinale ist kein Festival mit hohem Intensitätslevel – dafür ist das überladene Programm viel zu durchwachsen. Sein Bilderfluss lässt mit der Zeit abstumpfen; die Augen werden glasig, die Aufnahmebereitschaft sinkt. Dann braucht man einen Defibrillator-Film, um die Leinwand wieder mit frischen Sinnen betrachten zu können. Am Montagabend feierte hier so ein Aufwecker Premiere, in der Dokumentarschiene der Panorama-Nebensektion: „Untitled“, das letzte Werk des österreichischen Ausnahmeregisseurs Michael Glawogger.
Im Dezember 2013 machte sich dieser zusammen mit Attila Boa (Kamera) und Manuel Siebert (Ton) auf die Reise durch den Balkan, Italien und Afrika, um Material für sein bisher gewagtestes Projekt zu sammeln: Ein „Film ohne Namen“ sollte es werden, ein persönliches Poem aus Eindrücken. Doch am 22. April riss die Kino-Exkursion tragisch ab. In Liberia erkrankte Glawogger an Malaria und konnte nicht mehr rechtzeitig korrekt behandelt werden, starb am 22. April mit nur 54 Jahren auf dem Weg zurück nach Wien.
Der Schock saß tief, besonders bei seinen Angehörigen und Mitstreitern. Doch nach der Überwindung der ersten Starre machten sie sich daran, die angefangene Arbeit in eine präsentable Form zu bringen. Schnittmeisterin Monika Willi sichtete sich durch 70 Stunden Material und montierte es in einem dreijährigen Prozess zu einem eindrucksvollen Bildgedicht, das als Tribute an den Verstorbenen funktioniert und gleichzeitig eine Ahnung seiner Vision vermittelt.
Gegensätze schließen sich nicht aus
Schon 2015 wurden bei der Diagonale in Graz erste Ausschnitte präsentiert. Willi experimentierte auf der Tonspur mit Literaturexzerpten und Songs aus Glawoggers iPod-Reiseplaylist. Schließlich entschied man sich dafür, den Filmemacher selbst sprechen zu lassen: Die finale Fassung ergänzt die Aufnahmen mit elektroakustischer Chormusik von Wolfgang Mitterer und Textpassagen aus den Drehtagebüchern, die Glawogger im Zuge seiner Reise verfasste. Für die in Berlin gezeigte englische Version des Films wurden diese von der irischen Schauspielerin Fiona Shaw eingelesen, den deutschen Voice-over übernahm Birgit Minichmayr. Glawogger, erklärte Willi nach dem Screening, hätte sich einen Film ohne Untertitel gewünscht – nur aus Respekt vor dem internationalen Festivalpublikum wurde nicht auf sie verzichtet.
Selbst wenn man die Ausführungen der Erzählstimme nicht verstehen sollte: Die unbändige Schaulust von „Untitled“ dürfte kaum jemanden kalt lassen. Am Anfang läuft Glawogger kurz selbst durchs Bild, schreckt für die Kamera einen Vogelschwarm auf, der erhaben gen Himmel gleitet. Was folgt, ist eine rastlose Suchbewegung ohne klares Ziel, ein elegischer Marathon durch Szenerien der Schönheit und des Schreckens, der Freude und der Melancholie: Von den unverputzten Häusern im kriegsgeschädigten Kroatien über Marokko, wo der Wüstenwind Plastiksäcke über den Boden fegt wie Steppenläufer, bis zur unfreiwilligen Endstation in Harper, Liberia – einem „Ort, an dem man sich vielleicht hätte verstecken können“.
Das Kameraauge heftet sich dabei immer wieder an die Rücken von Gehenden, Laufenden, Reitenden, Fahrenden – besonders mitreißend bei Kindern, die in Sierra Leone auf selbst gezimmerten Skateboards Straßenhänge hinuntersausen. Glawoggers Weltbild war eines extremer Gegensätze, die einander nie ausschlossen: „Jungle of Eden, Garden of Hell“, wie es am Ende heißt. Der Schnitt betont das, sucht das Kreatürliche im Menschen, das Menschliche im Tier, kreuzt Freiheit mit Gefangenschaft und Frieden mit Gewalt. Auch vor Grausamkeit schreckt „Untitled“ nicht zurück. An einer Stelle wird man Zeuge einer Wasserstellen-Prügelei. Ein Mann liegt auf dem Boden, jault, windet sich vor Schmerz, die Kamera hält drauf: alles Teil derselben, berauschenden Wirklichkeit, wie sie nur der angstfreie österreichische Globetrotter ins Bild setzen konnte. „Im Verabschieden war er nie gut gewesen. Wenn man geht, dann geht man, hatte er immer gedacht“, verrät einer von Glawoggers in der dritten Person verfassten Tagebucheinträgen. Seine Freunde und Kollegen haben ihm mit „Untitled“ einen filmischen Abgang ermöglicht, der im Gedächtnis bleiben wird.
Eines von Glawoggers Vorbildern war Robert Gardner – Mitbegründer des Filmforschungszentrums in Harvard, dessen Sensory-Ethnography-Laboratorium viele spannende Dokumentaristen hervorgebracht hat. Einer davon, J. P. Sniadecki, stellte in Berlin seinen in Ko-Regie mit Joshua Bonetta gedrehten Film „El mar la mar“ vor – eine Erkundung der Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA, die jedes Jahr von zahlreichen Migranten unter Lebensgefahr durchquert wird. Auch dieses Werk verzichtet auf Didaktik, versucht vielmehr, mit atemberaubenden 16-mm-Aufnahmen und Erfahrungsberichten die widersprüchliche Stimmung des Ortes einzufangen. Ob Glawogger „El mar la mar“ gefallen hätte? Dass es weiterhin Filmemacher gibt, die abseits von Konventionen in die Welt blicken, ist fraglos in seinem Sinn.
ZUR PERSON
Michael Glawogger, 1959 in Graz geboren, war Filmemacher und Globetrotter. Er drehte Dokumentationen wie „Megacities“ (1998) und „Workingman's Death“ (2005) und Spielfilme wie „Nacktschnecken“ und „Contact High“. 2013 brach er für eine Doku zu einer Weltreise auf, im April 2014 starb er in Liberia an Malaria. Aus dem bis dahin gefilmten Material entstand „Untitled“. [ Sascha Trimmel]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2017)