Cannes: Ein Festival am Rande des Abgrunds

Immer wieder sind in den Geschichten dieses Wettbewerbs die Kinder die Leidtragenden – „Loveless“ von Andrei Swjaginzew über ein Paar in der Ehehölle hinterlässt nichts als Verbitterung.
Immer wieder sind in den Geschichten dieses Wettbewerbs die Kinder die Leidtragenden – „Loveless“ von Andrei Swjaginzew über ein Paar in der Ehehölle hinterlässt nichts als Verbitterung.(c) Filmfestspiele Cannes
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Der Wettbewerb war heuer ausgesprochen trist. Unter den vielen Schreckensvisionen wirkte selbst Michael Hanekes „Happy End“ wie eine Auflockerung. Hoffnungsschimmer und Utopien fanden sich in den Nebensektionen.

Die 70. Filmfestspiele von Cannes hatten die Wettergötter auf ihrer Seite: Nicht nur der Endspurt des Festivals fand bei strahlendem Sonnenschein statt, selten trübte Wolkendunst die sommerliche Atmosphäre an der Côte d'Azur. Auf der Leinwand ging es indes düster zu. Weniger in Bezug auf die Qualität: Der Wettbewerb war solide, auch wenn er keine großen Überraschungen (und ein paar Enttäuschungen) bereithielt. Aber Thema, Weltbild und Ästhetik vieler Filme machten einen glauben, die Menschheit sei in eine tiefe Grube gefallen – eine Grube, die sie sich selbst gegraben hat.

Nach einer ungewohnt beschwingten Eröffnung mit dem exzentrischen Genre-Mix „Les fantômes d'Ismaël“ startete ein Spießrutenlauf durch Visionen der Verachtung, des Unglücks, der Korruption und der Niedertracht: Insofern hatte „Loveless“, der Titel der ersten Wettbewerbspremiere, geradezu Motto-Charakter. Flüchtlinge wurden niedergeballert. Süße Wunderwesen mit dem Bolzenschussgerät hingerichtet. Eltern von Kindern und Kinder von Eltern getötet. Eine Vielzahl der Beiträge zeichneten die Gegenwart als Brutstätte von Egoismus und Narzissmus – sogar die Komödien. Andere boten Sittenbilder, deren Ausweglosigkeit ihresgleichen sucht. In diesem Kontext nahm sich Michael Hanekes sardonische Farce „Happy End“ regelrecht gemütlich aus.

Die Folgen von Terror

Vertreter der jüngsten Generation zählten zu den größten Leidtragenden vieler Kinoerzählungen des Wettbewerbs, was im Schatten des Anschlags in Manchester einen besonders bitteren Beigeschmack entwickelte. Am Tag nach dem Attentat reagierte das Festival mit einem Kondolenzschreiben, vor vielen Screenings wurde eine Schweigeminute abgehalten. Viele sahen den Sicherheitsfanatismus an der Croisette in einem anderen Licht. Fatih Akins (leider ganz und gar nicht gutes) Drama „Aus dem Nichts“ befand sich plötzlich irgendwo zwischen Gedenkfilm, Geschmacklosigkeit und Mahnwache: Diane Kruger spielt eine Mutter, die ihren türkischen Mann und Sohn bei einem Bombenattentat verliert. Neonazis geraten unter Verdacht, werden aber von einem diabolischen Anwalt (Johannes Krisch) vor der Verurteilung bewahrt. Daraufhin nimmt die Frau das Gesetz selbst in die Hand. Akins Kinokommentar zu den NSU-Prozessen verspricht ein Statement über den persönlichen Umgang Angehöriger mit den Folgen von Terror. Doch er nimmt sich zu viel auf einmal vor: Genre, Melodram, Gerichtsthriller. Gleichzeitig bewegt sich seine Dramaturgie auf Fernsehspiel-Niveau.

Immerhin sucht er nach einer Art Katharsis. Andere Filme verweigerten diese kategorisch – besonders die beiden in Russland verorteten. Sie sperrten das Publikum ins Herz der Finsternis und warfen den Schlüssel weg. Der bereits erwähnte Flim „Loveless“ von Andrei Swjaginzew lässt ein Paar in ihrer Ehehölle lodern und hinterlässt nichts als Verbitterung. Wesentlich intelligenter geht Sergei Loznitsa in „A Gentle Creature“ vor: Eine vom Leben gezeichnete Frau will ihren Mann in einem Provinzgefängnis besuchen. Der Film schickt seine Hauptfigur durch einen demütigenden Hindernisparcours, der schleichend immer surrealer wird – und schließlich komplett ins Groteske abdriftet. Sein Titel verweist auf eine Kurzgeschichte von Dostojewski (und ein Spätwerk von Robert Bresson). Doch mit seiner epischen Entfaltung eines karikaturesken, historisch unterfütterten Verkommenheitspanoramas steht „A Gentle Creature“ Gogol – und Karl Kraus – viel näher.

Denkmal für politischen Aktionismus

Auf seine Weise ist Loznitsas Film ein Meisterwerk. Doch auch er gibt einem wenig Grund zur Hoffnung. Die flackerte vor allem in Naomi Kawases cinephilem Rührstück „Hikari“ auf, über eine Autorin von Filmbeschreibungen für Blinde und ihre Beziehung zu einem älteren Fotografen, der langsam sein Augenlicht verliert. Und in „120 Beats per Minute“ von Robin Campillo, der als Denkmal für politischen Aktivismus wohl am ehesten den Nerv der Zeit trifft: Auf Basis von persönlichen Erfahrungen berichtet er von der französischen „Act Up“-Bewegung in den Neunzigern, die mit gewaltfreien Interventionen Politik und Pharmaindustrie unter Druck setzte, um den Kampf gegen AIDS voranzutreiben. „120 BPM“ ist ausschweifend und nicht immer stringent: Wie im Staffellauf wechselt er von gruppendynamischen Debatten zu intimen Liebesszenen, von Naturalismus zu Melodramatik. Doch seine unbändige Energie steckt an – und eine Reihe famoser Schauspielleistungen, allen voran die des Argentiniers Nahuel Perez Biscayart, bleibt in Erinnerung.

Ansonsten musste man die Utopien eher in den Nebensektionen suchen, die wie so oft mehr anspruchsvolle, spannende und mutige Filmkunst boten als der Hauptbewerb. Zu den Highlights gehörten dort der deutsche Film „Western“, der unter deutschen Gastarbeitern in Bulgarien spielt, und Sean Bakers „Tangerine“-Nachfolger „The Florida Project“, der eine Sozialbau-Gemeinschaft unweit von Disneyland durch die Augen eines aufgeweckten Mädchens betrachtet. Einer steht im Geiste von Pasolini, der andere ist beseelt von Pop. Doch beide glauben an die Menschen und ihre Welt – und das ist heutzutage sehr viel wert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2017)

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