Ex-DDR-Prachtboulevard

Wohnen im Baudenkmal Karl-Marx-Allee

Die Karl-Marx-Allee von oben
Die Karl-Marx-Allee im Osten Berlins - die erste sozialistische Straße der DDR, ein Prestigeobjekt nach dem Zweiten Weltkrieg. © Deutschlandradio/ Eberhard Schade
Von Eberhard Schade · 03.10.2016
Die Karl-Marx-Allee im Osten Berlins war das große Prestigeobjekt der DDR-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch heute wohnen dort einige, die ihre Entstehung erlebten. Und andere, die sie mit neuem Leben füllen. Eine Heimatgeschichte.
Sein nächstes Projekt liegt direkt vor seiner Haustür. Gerrit Engel nimmt das schwere Stativ und geht durch den Hinterhof bis zum Ausgang Karl-Marx-Allee. Über zwei Ampeln, Richtung Osten, vorbei an einer Würstchenbude, einem verwaisten Biergarten.
"Ja, alles sehr verwaist, in dem ehemaligen Café Warschau ist das Computerspielmuseum drin, im Restaurant Budapest ist jetzt ein Steakhaus."
Der Fotograf und Künstler will ein Mosaikfries fotografieren, das neben dem Museum auf einer zurückgesetzten Wand angebracht ist. Es zeigt ein tanzendes Paar in Tracht auf einem Meer von bunten Blumen, Sternen und Blättern. In zwei Holzschiffchen sitzen sechs kleine Vögel, trällern dazu. Zwischen dem mit Werbung beklebtem Bauzaun des Biergartens und dem Super-Mario im Schaufenster des Museums wirkt es wie aus der Zeit gefallen.
Engel setzt seine schwere Tasche auf den Boden, schraubt seine Großformatkamera auf das Stativ, verschwindet für ein paar Sekunden unter einem schwarzen Tuch. Eine Seniorin kommt auf ihren Rollator gestützt vorbei, blickt kurz hoch und muss schmunzeln. Dann geht alles ganz schnell.
"Jetzt habe ich da meine Wand, meine Mosaikwand, normalerweise dauert das viel länger. Jetzt passt es gut. Blende schließen, Verschluss spannen. Jetzt ziehe ich den Schieber, der den Film vor Lichteinfall schützt raus und kann belichten. So. Ja, jetzt ist ein Bild auf Platte gebannt."

Die erste sozialistische Straße der DDR

Ein Motiv für ein Fotobuch. Über die Karl-Marx-Allee. Die auch für Gerrit Engel mehr ist als irgendeine Straße. Großzügig, weitläufig, monumental ist die Allee. Über 100 Meter breit, 2,4 Kilometer lang, vom Alexanderplatz im Bezirk Mitte bis zum Frankfurter Tor im Stadtteil Friedrichshain. Es ist die erste sozialistische Straße der DDR, ein Prestigeobjekt nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausdruck des Aufbauwillens. Inspiriert von sowjetischer Architektur und deutschem Klassizismus. Mit Säulen, Gesimse, Balustraden, Fliesen und Emporen überall. All das und natürlich die Menschen, die neuen und die, die von Anfang an hier in dem Baudenkmal leben - will Engel schon lange fotografieren, festhalten. Jetzt, wo er hier zu Hause ist, muss er fast ein bisschen aufpassen, dass er im Alltag nicht den Blick für das Besondere verliert.
"Hier ist das jetzt in der Tat so, dass ich kein Außenstehender mehr bin. Am Anfang ist man jeden Morgen staunend zur Tür raus gekommen auf den großen Boulevard getreten und hat sich gedacht, Mensch fantastisch, hier wohne ich. Mittlerweile ist das nicht mehr ganz so, sondern alltägliche Umgebung. Es ist jetzt eine intensive Form der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, der Alltag für mich geworden ist das ist ganz schön, ich entdecke auch immer wieder neue Sachen."
Schräg gegenüber des Mosaikfrieses liegt das Café Sibylle, ein echtes Karl- Marx-Allee Urgestein. Und vor der Tür bekommt gerade noch ein "Urgestein" des Cafés ein Geburtstagsständchen. Artur Schneider, der ehemalige Betreiber des Cafés. Er ist selbst heute gekommen, um eine Gruppe Touristen auf eines der wenigen Dächer der Karl-Marx-Allee zu führen, die noch begehbar sind. Zum Abschluss begleitet Schneider die Gruppe ins Café, empfiehlt den Schweden-Becher, drei Kugeln Vanille Eis mit Eierlikör und Apfelmus, und die von ihm konzipierte Ausstellung im hinteren Teil des Cafés.

Stalin als eigenes kleines Geschichtsbuch

Dort steht Stalin, lebensgroß aus Pappmaché. Man kann an ihm Tafeln aufklappen und darauf die bewegte Geschichte der Straße und ihrer vielen Bauten nachlesen. Artur Schneiders Kampf gegen Geschichtsvergessenheit.
"Es ging nach der Wende sehr schnell, da ist manchmal nicht richtig überlegt worden so ´ne Bilderstürmerei zu machen. Da hätte man länger drüber reden können."
Stalin, klar, der musste weg. 1961 hatten auch die Kommunisten gemerkt, dass sie die Statue eines Verbrechers aufgestellt hatten. Und über Nacht die alte Stalinallee umbenannt in Karl-Marx-Allee. Deren Bauten, sagt Schneider, standen zum Glück nie zur Diskussion.
"1990 noch unter Denkmalschutz gestellt. Hier hat ein Westimmobilienbetrieb die ganze Allee gekauft und saniert, mit großem Aufwand und Engagement und ich denke, die Straße ist in Berlin auch in dieser besonderen Architektur verankert."
Und selbst von Stalin ist noch was da. Ein paar Bauarbeiter, die ihn mit zerlegt hatten, steckten sich ein Stück Bart und Stalins linkes Ohr als Souvenir ein - heute der Renner in der Ausstellung.
Original ist im Café sonst eigentlich nur noch das Motiv an den Wänden: grüne und rote Sektkelche auf beigem Grund.
" ... die haben wir hervorgeholt, unter fünf Schichten, die Stuckdecke, das ist so das Original."
Und natürlich der ein oder andere Stammgast. Wie Karl Brosche, der oben im zweiten Stock wohnt. Jeden Tag tippelt der 89jährige kleine Mann mit den buschigen Augenbrauen und der goldenen Parteitags-Uhr runter, setzt sich an den Tisch direkt vor dem Tresen, trinkt sein Clausthaler und blickt aus dem großen Fenster auf die Allee. Neben den Spaniern, Japanern und Amerikanern mit ihren Reiseführern wirkt auch er ein bisschen aus der Zeit gefallen.
Dabei war Karl Brosche schon immer da. Hat die Straße aus Trümmern mit aufgebaut und quasi als Belohnung die Wohnung oben bekommen. "Können sie sich gern später mal angucken", sagt er. Jetzt will er nicht stören, Schneider erzählen lassen. Sein Bierchen weiter trinken und auf die Straße gucken. Auf die wenigen Fußgänger, die schnellen Radfahrer. Und die vielen vielen Autos, die der Straße ihr Grundgeräusch geben: ein stetes Rauschen.
"War auch damals schon arger Autoverkehr, aber es macht einfach auch Spaß durch die großen Fenster zu gucken. Man ist mittendrin, man gehört dazu, das Flair überträgt sich."

Prachtboulevard Karl-Marx-Allee in zerstörtem Umfeld

So geht es Artur Schneider auch damals, als er seine Schwester besucht, die gleich um die Ecke wohnt. Als die Cafés hier noch Warschau, Moskau, Budapest heißen und nicht Yasmin, Acapulco oder Water Lilly:
"Ist so ein bisschen meine Geschichte von der Zeit her. 50er, 60er, 70er. Das ist mein Leben und diese Straße war nun was ganz Besonders. Zerstörung, Wiederaufbau, dann in dieser Gegend, der armen Friedrichshainer Gegend so einen Prachtboulevard zu bauen, das war schon was Besonderes."
Schneider wird heute 66. Sieht fit aus. Braungebrannt und durchtrainiert. Ein Jahr will er das noch machen mit den Führungen, der Ausstellung. Dann ist Schluss. Insgesamt findet er, die Straße ist auf einem guten Weg. Klar sind Leute weggezogen. Der Quadratmeter Miete liegt heute bei neun Euro und nicht mehr bei 95 Pfennig. So viel findet er das nicht. Und auch das Gewerbe erholt sich langsam. Die meisten Baustellen sind weg, mit ihnen die Billigläden. Dafür kommen Galerien, Einrichtungsläden, und in der alten, denkmalgeschützten Karl-Marx-Buchhandlung gleich nebenan gibt es neuerdings wieder Lesungen.
"Den Leerstand, den wir nach der Wende hatte, der ist wirklich überwunden, die Straße ist wirklich auf einem guten Weg."
Ein Exponat möchte er aber unbedingt noch für seine Ausstellung haben. Ein Miniatur-Modell der Dachwohnung von Richard Paulick, einem der bekanntesten Architekten der Allee:
"Das ist das Entrée, die Möbel ist alles noch Original, die Lampe, der Stuhl, das war das Wohnzimmer. Hier hat man gefrühstückt, Mittag und Abendbrot gegessen, hier war die Essecke. die chinesische Kommode hat den Originalplatz nicht verlassen. Die Küche, die Einbauschränke sind original erhalten."
Natascha Paulick im Arbeitszimmer ihres Großvaters
Natascha Paulick im Arbeitszimmer ihres Großvaters© Markus Wächter
Natascha Paulick weiß gar nicht, wo sie anfangen soll. In dieser sehr besonderen Dachwohnung an der Karl-Marx-Allee genau gegenüber vom Café Sibylle. Diesem Haus auf dem Haus mit quadratischem Grundriss und Doppelkastenfenstern in allen vier Wänden. Natascha Paulick ist Mitte 40, hat viele Kindheitstage hier verbracht. 1993, nach dem Tod ihrer Großmutter, zieht sie als Mieterin selbst ein:
"Jetzt muss ich mal kurz gucken, ob der Flammkuchen fertig ist. Sieht gut aus. Hier wurde schon immer viel gekocht und gegessen."
Eben noch in der Küche rauscht sie wieder zurück zum Eingang, springt gedanklich noch einmal über 60 Jahre zurück:
"Wir sind im Jahr '51, Berlin ist zerstört und dann hat er die Möglichkeit, sich ein eigenes Reich zu bauen, und das ist so großzügig, finde ich, wenn man hier reinkommt, für diese Zeit. So ein Raum muss man ja einrichten können, das muss ja stimmen von den Proportionen und allem ... ."
Arbeits- und Wohntrakt ineinander übergehend und dennoch ganz einfach abzutrennen durch eine große weiße Holztür mit wunderschönen Kastenfenstern. Richard Paulick darf hier, in dem von ihm entworfenen Block C der Stalinallee, eine Wohnung für sich selbst mit planen. In der er mit seiner Familie lebt und arbeitet:
"Nachdem mein Großvater den Wettbewerb gewonnen hatte für die Sporthalle fuhr man ihn die Allee lang weil er sollte den Ort bestimmen weil es gab ja einen Termin und Richard Paulick dreht sich um und sagt zum Fahrer: Wir werden verfolgt, wir werden verfolgt! Nein, nein, das ist der Bautrupp, die fangen gleich an. Dann hat er die Stelle gefunden, da wurde dann losgelegt und vermessen."
Seine Enkelin ist heute fest davon überzeugt, dass obwohl die DDR-Regierung nicht modern bauen wollte - die Architekten es trotzdem taten: "Also für mich ist das Bauhaus, absolut. Auch ´ne Bauhaus Idee , dass man das Arbeitszimmer mit Garten verbindet. Und die Bäume auf der Terrasse sind auch noch original. Die Lerche, die Birken und die schöne Mauer ..."

Über den Dächern der Allee ein Stück Heimat

Natascha Paulick zieht eine dünne Baumwolljacke über ihr schwarzes Sommerkleid, tritt aus der Bibliothek ihres Großvaters über eine Holzstufe hinaus in den Dachgarten.
Dort steht ein gedeckter Tisch. Mit einer Kristallkaraffe mit Fliedersirup, einer großen Hedwig Bollhagen-Teekanne mit dazu passenden Tassen. Das ganze Ensemble sieht so schön aus, fast wie ein Stillleben. Für Natascha Paulick ist es mehr. Es ist Heimat. Heimat auf Wolke Sieben.
Am Rand der alten Paulickschen Terrassenmauer führt ein schmiedeeisernes Tor weiter hinaus aufs Dach. Das laute Rauschen der Allee unten - hier oben ist es leise:
"Und das Dach gehörte uns, ich hab' auf dem Dach Rollschuh fahren gelernt, Fahrrad fahren, hier wurde vor den ersten Jungs weggelaufen, die einen küssen wollten, hier wurde Wäsche aufgehangen. Hier wurden Geburtstage gefeiert, hier wurde Silvester gefeiert und dann ging das Tor auf und dann lud mein Großvater noch zum Champagner ein. Und das war ´ne schöne Sache. Es ist ja wirklich ein Jammer, wie es aussieht was daraus geworden ist und das man diese Idee nicht aufrechterhalten hat."
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Der Dachgarten von Natascha Paulick© Markus Wächter
Stattdessen hat der Eigentümer fast alle Dächer auf der Karl-Marx-Allee abgedichtet, Kies draufgeschüttet, Betreten verboten Schilder aufgehängt. Fertig. Kein Wunder, sagt Paulick, dass da die Kultur des Miteinanders langsam aber sicher flöten geht.
Früher, da gab es Champagner auf dem Dachgarten, Ananas in Dosen von Hortex, dem ungarischem Spezialitäten-Laden, Tanz im Biergarten des Café Warschau. Das Leben der Paulicks priviligiert, auch wenn der Familie die Wohnung nicht gehört.
Nach der Wende aber wird immer wichtiger, wem was gehört und das bekommt die Schauspielerin zu spüren. Ihr Vermieter will auch ihre Wohnung energetisch sanieren, die 12 Doppelkastenfenster und die Tür zur Terrasse ersetzen und eine Lüftungsröhre durch die Wohnung legen.
"Sie haben das Arbeitszimmer gesehen: 'Wenn man da die Tür rausnimmt, der ganze Charme wäre flöten, das wäre nicht mehr die Bibliothek meines Großvaters.'
Paulick weigert sich, schreibt Briefe an die Bauhaus-Stiftung Dessau, sucht Verbündete, kämpft wie eine Löwin, um die Wohnung exakt so zu erhalten wie sie ist. Sie liest sogar Bücher über moderne Kriegsführung. Im Juli 2012 fährt sie vor Gericht einen Etappensieg ein. Sie muss die Sanierung vorerst nicht dulden:
"Ich kann die Mieter verstehen, dass sie Fenster, die kaputt sind ... dann wird das eben gemacht. Aber hier haben wir es eben mit ´ner Wohnung zu tun, die ist einmalig. Die hat Professor Paulick für sich konzipiert und seine Familie und die gibt es nicht nochmal auf diesem Planeten."

Heute prallen Kapitalisten und Geschichtsbewahrer aufeinander

Die zierliche Frau hat jetzt einen sehr entschlossenen Zug um den Mund. Im Grunde, sagt sie, ist es doch ein "kriminalistischer Akt" gewesen, dass eine Bank damals einfach so die Karl-Marx-Allee kaufen konnte. Und so hier unweigerlich zwei Welten aufeinander prallen. Nämlich die derjenigen, die Geschichte bewahren - und die, die aus ihr Kapital schlagen wollen:
"Die haben ihren Schatz überhaupt nicht begriffen. Ich kann die ja nicht wachrütteln oder hauen, dass die das begreifen. Das werden die auch nicht verstehen."
Mit "die" könnten sich Männer wie Einar Skjerven angesprochen fühlen. Der Norweger ist Immobilienmakler und verkauft ein paar Blöcke weiter, am westlichen Ende der Allee, dem Straußberger Platz, Wohnungen an reiche Chinesen, Araber und Briten. Für 3800 Euro den Quadratmeter:
"Die Geschichte verkauft sich gut im Ausland, weil die Leute glauben, dass sie verstehen, sie kaufen einen ´piece of history´. Man kann auch aus Spaß sagen: Die Mauer ist ausverkauft, jetzt kann man Straußberger Platz kaufen."
Skjerven grinst, nimmt einen Schluck von seiner Orangina, lehnt sich zurück in einem 50er-Jahre Sofa. Das steht zwischen Nierentischen und 1000 Euro teuren Schichtholzstühlen in seinem Retro-Möbel-Laden. Dort empfängt Skjerven seine Kunden am liebsten, der Laden liegt direkt neben seinem Maklerbüro. Über die Möbel kann er schnell die Brücke zu den Wohnungen schlagen. Umgeben von so viel Retro-Schick unterschreibt ein Chinese oder ein Scheich offenbar schneller.

Die Champs-Élysées des Ostens

Und wenn das nicht reicht, hat Skjerven immer noch einen Trumpf im Ärmel, seinen DDR-Showroom im Block gegenüber.
Skjerven holt den Schlüssel, geht draußen vorbei an seiner neuen Harley-Davidson, mit der er immer aus dem Grunewald hierher kommt. Auf der Fußgängerinsel der Karl-Marx-Allee bleibt er stehen, blickt die Allee Richtung Osten hinunter, direkt auf die beiden Kuppeln der Wohntürme am Frankfurter Tor. Ein einzigartiges Großstadtpanorama. Der Makler in Cowboystiefeln breitet die Arme aus, schwärmt von dieser coolen Straße, außen Stalin innen Bauhaus. Für ihn die Champs Elysée des Ostens.
In unmittelbarer Nachbarschaft liegt eine Bauernstube, ein Geschäft mit Boxspringbetten, ein Bestattungsinstitut und ein Nagelstudio. Und jeder zweite, der am frühen Nachmittag auf dem Bürgersteig vorbeiläuft, sieht älter aus als die Karl- Marx-Allee ist.
Schön allerdings: am Straußberger Platz wird das Rauschen der Autos manchmal vom Rauschen des großen Springbrunnens übertönt.
Im 6. Stock angekommen schließt Skjerven die Tür auf: "Hier ist eine DDR-Style 60er Jahre, wie es vielleicht war ..."
Neben einem Wohnzimmer, in dem auf einem Retro-Sideboard lustige bunte Plastikwürfel zu Molekülen zusammengesteckt sind - weil hier vielleicht mal ein Astrophysiker gewohnt hat - liegt das Jagdzimmer:
"Hier ist ein Jagdzimmer. Mit Elefant, Antilope, Gorilla. Mehr Afrika inspiriert."
Trophäen einer Großwildjagd auf einer goldfarbenden Schilfgrastapete. Für alle die, die in der DDR die richtigen Kontakte hatten und reisen konnten, sagt Skjerven: "Palmeninspirierte Lampen ..."
Und, vielleicht nicht ganz stilecht, aber sicher ebenfalls verkaufsfördernd in diesem DDR-Märchenpark: ein Glasschrank mit lauter kleinen Fernsehtürmen.
Karl Brosche in seiner Küche
Karl Brosche in seiner Küche© Deutschlandradio/ Eberhard Schade
Goldfarbene Schilfgrastapeten, Jagdtrophäen - danach sucht man in der Zwei-Zimmerwohnung von Karl Brosche, dem Stammgast im Café Sibylle, vergebens: "Das ist meine Frau, das ist Italien, da war mein Vater im Krieg."
Sein Flurregal ist vollgestellt mit echten Erinnerungen. Ein Foto seiner verstorbenen Frau steht da, eine Klapppostkarte von einer Gebirgskette in Italien, in der sein Großvater im Krieg war, ein kleines Tablett mit einem Hans im Glück-Motiv.
Der 89-Jährige und seine Frau gehörten damals mit zu den ersten Mietern, die in einen der Wohnpaläste für Arbeiter auf der Karl-Marx-Allee einziehen. Das war wie ein Sechser im Lotto, sagt Brosche und seine Nichte neben ihm nickt:
"Bäder waren früher schon gefliest ..."
Fernwärme, Warmwasser, Bad, Aufzug und Gegensprechanlage in jeder Wohnung. Wer das einmal hatte, der wollte nie wieder raus. Karl Brosche und seine Frau zahlen für den sozialistischen Luxus bis zur Wende 90 Mark. Heute zahlt er für die knapp 70 Quadratmeter 600 Euro warm.
"Hier ist noch so ein Durchgang."

Langjährige Mieter erinnern sich an den tollen Blick auf Paraden

Das Wohnzimmer nach hinten raus ist sehr hell und sehr ruhig. Hinter den Bäumen im Hof liegt das ehemalige Waschhaus, wo sich früher alle Mieter getroffen haben und ihre Wäsche machten. Heute wohnt dort Gerrit Engel. Der Fotograf, der vielleicht auch Karl Brosche für sein Fotobuch portraitieren wird. Artur Schneider, Natascha Paulick und Einar Skjerven:
Eine lindgrüne Sitzgarnitur, zwei alte dunkle Kommoden, Römergläser in einer Vitrine, an der Wand ein kleines Hiddensee-Motiv auf Öl. So haben sich die Brosches im Laufe ihres Lebens eingerichtet.
Sie führen kein priviligiertes Leben, wie die Paulicks gegenüber, aber ein gutes. Karl Brosche ist bei der NVA, seine Frau arbeitet als Sekretärin im Ministerrat. Kinder haben sie keine. Und wenn sie am Wochenende mal nicht draußen im Brandenburgischen sind, sitzen sie gern in der Mokka- Milch-Eis-Bar oder bei einem Bierchen im Café Warschau. "Da kam auch schon mal der Paulick vorbei", erinnert sich Brosche.
Vieles haben Erstbezügler wie Karl Brosche an der Allee kommen und gehen sehen. Am 1. Mai und 7. Oktober, den Tagen der großen Paraden, hatten sie in ihrer Wohnung quasi einen Logenplatz.
"Weil wir hier in der ersten Reihe standen. Und anschließend haben wir Mittag gegessen bei meiner Tante und sind anschließen drunter in die Milchbar. Und dann haben wir einen Milchshake gekriegt. Mit 'nem richtigen Strohhalm aus echtem Stroh. Na det war´n Highlight."
100 000 Autos fahren jeden Tag über die Karl-Marx-Allee, mit bis zu 70 Stundenkilometern. Die meisten um den Feierabend. Ganze Kolonnen schieben sich dann stadtauswärts und auch der Radweg ist voll. Fast alle Radfahrer tragen Funktionskleidung und Helm. Kommen irgendwo her, wollen schnell irgendwo hin. Zwischen fünf und sechs Uhr abends wird das Kulturbaudenkmal zur Schnellstraße.
Dämmert es dann, taucht doch noch der ein oder andere Kiezspaziergänger auf. Vielleicht weil sich dann die alten liebevoll restaurierten Kandelaber anschalten und die Ahornbäume neben der Straße in ein wunderbar warmes Licht tauchen. Der Alleebewohner führt dann Hund oder Rollator aus, raucht auf einer der Bänke eine Zigarette. Und linst auch schon mal auf die Menschentraube vor den mit knallroter Folie beklebten Fenstern der Hausnummer 82 schräg gegenüber. Dort liegt eine Kunstgalerie.
Daneben leuchtet gelb der denkmalgeschützte Schriftzug der Karl-Marx-Buchhandlung. 2008 muss sie schließen, eine Filmfirma zieht ein. Die jungen Mitarbeiter stellen ihre Flachbildschirme zwischen alte Bücherregale, schneiden ihre Werbespots. Doch als immer mehr Passanten sich die Nasen am Schaufenster plattdrücken, weil sie denken, es gibt vielleicht doch wieder Bücher, zieht die Filmcrew eine Etage höher.

Lesungen zwischen denkmalgeschützten Regalen

Das ist der Moment, in dem einer der Geschäftsführer spürt, dass da was ist mit diesen Räumen und sich entschließt, den Ort quasi wiederzubeleben. Mit Lesungen.
Terrazzo Böden, elegante Säulen, Massivholzregale. Vanessa Remy ist beseelt von dem Ambiente ihres Veranstaltungsortes: "Mit den Regalen, mit dem denkmalgeschützten Interieur war es für mich so, dass der Ort danach schrie wiederbelebt zu werden."
Die ersten Rückmeldungen sind toll, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Viele ehemalige Kunden kommen, aber auch neue, junge Leute aus den beiden benachbarten Kiezen. Und genau mit diesem Mix könnte es ihrer Meinung nach klappen hier auf der Karl-Marx-Allee:
"Einerseits die Lebenswelt der Bewohner fortschrieben und da etwas wiederbeleben und ihnen einen Ort zurückgeben. Andererseits kann so ein Ort nur existieren, wenn er dadurch weiterlebt, dass wir auch die Jüngeren dafür gewinnen diesen Ort als Literaturort wahrzunehmen."
Natascha Paulick, erinnert sie sich, war auch schon mal da. Heute ist Peter Henning aus Köln gekommen, mit seinem neuen Roman "Die Chronik des verpassten Glücks." Der Mann hat ein bisschen Pech, nur 13 zahlende Gäste sind da. Henning hat heute Abend starke Konkurrenz. In Berlin ist Internationales Literaturfest und im Fernsehen läuft die Champions League.
Peter Henning schlägt sich bravurös. Bittet alle möglichst nah zusammenzurücken. Liest, hört zu, wenn Moderator Knut Elstermann, seine klugen Fragen stellt.
Vanessa Remy wirkt zufrieden, will aber mehr. Mehr Orte, an denen Literatur auf der Karl-Marx-Allee lebendig wird. Und irgendwann ein kleines europäisches Literaturfest. Damit die Leute vor oder nach einer Lesung auch bleiben, muss sich aber das Umfeld noch ändern findet sie. Kein Bierfest, keine Billig-Fressmeile.
"Vielleicht ein Restaurant, was besonders gut ist oder ausgefallen und eine gewisse Kundschaft zieht."
Die Allee ist so groß, so weitläufig, dass sie gar nicht weiß, dass es das seit gut einem Jahr bereits gibt. Klein, lauschig, liebevoll saniert und fast jeden Abend voller Stammgäste.

Neues Leben auf der Karl-Marx-Allee mit einer Weinbar

Nicola Sessa aus Salerno trägt ein weißes Hemd, Hosenträger, einen gepflegten Vollbart und sitzt bei einem Glas Nebbiolo im Hinterraum seines gelebten Traumes - einer Weinbar. Bunt gewürfelte Holzstühle, bärtige Barmänner, ein Fellini-Film, der an die grob verputzte Wand geworfen wird - alles hier wirkt sehr entspannt und wenig aufgesetzt. Dabei hatte auch Sessa erst seine Zweifel.
"Als wir anfingen hier zu renovieren, sahen wir tagsüber immer nur alte Leute, diese wunderbaren alten Menschen hier. Es war kalt, alles voller Schnee und wir dachten - nun ja, vielleicht war das doch nicht so eine gute Idee hierherzukommen."
Als er dann aber die bezaubernden Tapeten aus den 50ern, als in dem Ladenlokal noch Briefmarken verkauft und getauscht werden, freilegt, die ersten Weine in die denkmalgeschützten Regale legt, fleischige Oliven und bröckeligen Grana Padano zu seinen ausgesuchten Weinen anbietet, passiert es:
"Dann entdeckten wir hier plötzlich eine neue Welt versteckter Menschen. Tag für Tag kamen ein paar dazu und zu den meisten haben wir eine ehrliche Freundschaft entwickelt. Wir sehen sie zwei-, dreimal die Woche, und es ist erstaunlich wie wir zusammen, vor allem aber sie den Wert des Weines entdeckt haben."
Gerrit Engel, der Fotograf und Künstler, ist einer seiner Stammkunden. Er ist gerade raus, sagt Nicola. Wohl nach Hause. Nur ein Stück die große Straße vor dem kleinen Ladenlokal runter. Auf der Karl-Marx-Allee.
Eberhard Schade: "Zuerst kannte ich nur dieses wunderschöne Kino auf der Karl-Marx-Allee. Neugierig auf das, was dahinter liegt, war ich aber schon immer.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Eberhard Schade © privat
Und als ich dann meine Protagonisten für diese Reportage traf, dachte ich: sie alle würden auch ganz wunderbar in einen Film passen. Einen Film über das Gefühl von Heimat. In einer Straße, wie es sie wohl kein zweites Mal gibt."
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