Kinokolumne "Top Five"

Die fünf Filme mit den besten Kamerafahrten

Peter O'Toole als "Lawrence von Arabien" (M) mit Omar Sharif (l) und Anthony Quinn (r).
Peter O'Toole als "Lawrence von Arabien" (M) mit Omar Sharif (l) und Anthony Quinn (r). © dpa
Von Hartwig Tegeler · 18.04.2017
Kamerafahrten sind pure Technik. Doch sie können den Zuschauer in Erstaunen versetzen, ihm Emotionen vermitteln, ihn in die Geschichte hineinziehen. Hier sind unsere Top Five der Kinofilme mit den außergewöhnlichsten Kamerafahrten.
Kim Novak und James Stewart in Alfred Hitchcocks "Vertigo" (1958)
Kim Novak und James Stewart in Alfred Hitchcocks "Vertigo" (1958)© imago

Platz 5: "Vertigo. Aus dem Reich der Toten" von Alfred Hitchcock (1958)

Scottie hat Höhenangst als Reaktion auf sein Schuldgefühl, weil sein Kollege, der ihn vom Dach retten wollte, in den Tod stürzte. Dann, später, auf dem Turm, diese merkwürdige strudelnde, soghafte, verwirrende, nervenzerrende Kamerafahrt, die irreal wirkt, wie direkt abgefilmt aus dem Unterbewusstsein. Was ist schon Wahnsinn, was noch Realität? Eine optische Täuschung im Dienste der Geschichte. Der "Dolly-Zoom" wurde später mit dem Begriff "Vertigo-Effekt" geadelt. Grandios bei Hitchcock, aber auch bei Spielberg: zwei Sekunden im "Weißen Hai".
"Der weiße Hai" von Stephen Spielberg (1975)
"Der weiße Hai" von Stephen Spielberg (1975)© imago/EntertainmentPictures

Platz 4: "Der Weiße Hai" von Stephen Spielberg (1975)

Dann sitzt der wasserscheue Chief Brody - Roy Scheider - da, auf dem Campingstuhl; alle im Wasser. Dann die Hai-Attacke, ein Junge wird gefressen; das Meer färbt sich rot. Dann fährt die Kamera fährt auf ihn. Oder fährt er auf die Kamera zu? Oder rast er mit dem Hintergrund der Landseite des Strandes auf uns zu? Zwei Sekunden lang ist dieser Dolly-Zoom, bei dem die Kamera auf den Schienen und die Anpassung der Brennweite des Objektivs - wie gesagt, nur zwei Sekunden lang - eine unfassbare Dramatik des Gefühls auf der Leinwand erzeugen. Und das Wunderbare, das Spielberg schafft: Er erzeugt am Anfang vom "Weißen Hai" bei uns diesen Effekt von "Was war das denn?", es geht weiter, doch nach diesem Dolly-Zoom sind wir zusammen mit Chief Brody nicht mehr dieselben. Wir stehen am Abgrund zu der Hölle unserer Albträume.
"The Grand Budapest Hotel" mit Ralph Fiennes in der Hauptrolle (rechts), Tilda Swinton, Paul Schlase und Tony Revelori in weiteren Rollen.
"The Grand Budapest Hotel" mit Ralph Fiennes in der Hauptrolle (rechts), Tilda Swinton, Paul Schlase und Tony Revelori in weiteren Rollen.© imago/ZUMA Press

Platz 3: "Grand Budapest Hotel" von Wes Anderson (2014)

Reine Kinetik, reines Kino, wenn Monsieur Gustave, der Hotelmanager, und Zéro, der Liftboy, auf dem Schlitten dem Killer - der auf Skiern - durch das verschneite Traum-Osteuropa hinterher rasen, rasen, rasen, rasen, Schlenker, Kurve, Schikane, dann wieder in verrücktem Tempo - die Kamera entfesselt, wunderbare Bewegung, so real wie unsere Träume Puh, sie, nein, wir, auf dem Schlitten. Dann Punkt. Pause: "Ach du Scheiße, du hast ihn erwischt. Gut gemacht, Zero!" Pause. Dann wieder Bewegung.
Ausstellung über die visuellen Techniken in "Gravity"
In "Gravity" wurden vielfältige visuelle Techniken verwendet.© imago/ZUMA Press

Platz 2: "Gravity" von Alfonso Cuarón (2013)

Kino, sinnliche Erfahrung, in 3D, Sandra Bullock und George Clooney am Space Shuttle, Reparaturarbeiten im All, weite Stille, kein Oben, kein Unten, kein fester Boden mehr beim Schauen im Kino, Schwindel, alles löst sich auf - wie gesagt, dann noch 3D -, meditativer Zustand, Leere, Nichts. Dann knallen die Trümmerteile der Satelliten auf die beiden Astronauten. Einer der wenigen Filme, die man in 3D sehen muss. Jahrelang hat Alfonso Cuarón gewartet, bis die Kameratechnik soweit war, dass er seine Geschichte vom "lost in space" in dieser Art von Raum-Delirium umsetzen konnte. Und wie er das dann schaffte.
Der britisch-irische Schauspieler Peter O'Toole (r) als "Lawrence von Arabien" mit Omar Sharif (l). Seine Rolle in dem Film von 1962 machte ihn international berühmt. 
Der britisch-irische Schauspieler Peter O'Toole (r) als "Lawrence von Arabien" mit Omar Sharif (l). © picture-alliance / dpa

Platz 1: "Lawrence von Arabien" von David Lean (1962)

Aus der Unendlichkeit kommt Scheich Ali - Omar Sharif - auf Lawrence - Peter O´Toole - und uns zu. Kein Zoom, doch das 450-Millimeter-Objektiv musste sich David Lean für diese Einstellung bauen lassen. Zwei Minuten lang kommt Ali aus der Tiefe der Fata Morgana geritten. Aber das funktionierte nicht. Dann malten sie weiße Striche in die Wüste, um unseren Blick zu fokussieren. Und nachdem die Szene im Kasten war, meinte David Lean zu seinem Szenenbildner John Box: "Du wirst nie wieder eine bessere emotionale Formgebung als das hier kreieren!" "Emotionale Formgebung" - was für ein Ausdruck für das Kino. Form und Emotion. Wenn wir die Sehnsucht nach der Grenzenlosigkeit, nach der Freiheit im Kino emotional erfahren - auf Basis eines hochkomplexen technischen Geschehens -, dann in dieser Meister-Szene in diesem Meisterwerk. Schaulust ist entzündet, unwiderruflich. Wie einst bei Michael Ballhaus.
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