Turbulenzen in Dagestan

Alissa Ganijewas Romane handeln von der Kaukasusregion, in der postsowjetische Tristesse auf einen militanten Islam, Korruption auf engstirnige Traditionen trifft. So auch «Eine Liebe im Kaukasus».

Ilma Rakusa
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Alissa Ganijewas Bücher handeln von der Kaukasusregion. (Bild: PD)

Alissa Ganijewas Bücher handeln von der Kaukasusregion. (Bild: PD)

Alissa Ganijewa, Jahrgang 1985, wuchs in Machatschkala, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan, auf und lebt seit 2003 in Moskau. Ihre Bücher aber handeln von der Kaukasusregion, in der postsowjetische Tristesse auf einen zunehmend militanten Islam, wilde Korruption auf engstirnige Traditionen trifft. Schon in ihrem ersten Roman, «Die russische Mauer», legte sie auf phantastisch-realistische Weise die Missstände ihrer Heimat bloss, seither hat sie ihren Blick geschärft und nimmt in ihrem jüngsten Roman, «Eine Liebe im Kaukasus», die Verlogenheit dortiger Sitten ebenso gnadenlos wie verzweifelt ironisch aufs Korn.

Rückkehr in die Enge

Um es vorwegzunehmen: Die Lektüre nimmt gefangen, und dies nicht nur wegen des klugen Romanaufbaus, der Perspektivenwechsel und der mit Jugendslang und Elementen dagestanischer Idiome angereicherten Sprache, die Christiane Körner glänzend ins Deutsche übertragen hat.

Die Protagonistin Patja ist fünfundzwanzig und verbringt als Praktikantin ein paar Monate bei ihrem Bruder in Moskau, wo sie im Kreis teilweise exzentrischer Jugendlicher verkehrt. Die Rückkehr zu den Eltern in die öde dagestanische Siedlung fällt ihr nicht leicht, denn dort hat man nur eines im Sinn: sie möglichst bald zu verheiraten. Alle Gespräche drehen sich um Familiengründung, um häusliche Lappalien und endlosen Klatsch: Man habe den vermögenden Halilbek – den die einen für einen heiligmässigen Wohltäter, die anderen für einen Mehrfachmörder und Betrüger halten – festgenommen, zwischen den beiden Moscheen sei Streit ausgebrochen, die Polizei sei bestechlich und vieles mehr. Jeder belauert den anderen, Intrigen, Gerüchte und Doppelmoral vergiften den Alltag.

Als Patja den Kampfsportler Timur trifft, mit dem sie sich wochenlang auf Facebook ausgetauscht hat, realisiert sie, dass sie in eine Falle getappt ist. Denn Timur entpuppt sich als Leugner der Evolutionslehre, als Salafist und erzkonservativer Macho, der in Patja bereits seine Braut sieht. Da taucht wie ein rettender Engel Marat auf, und zwischen den beiden entsteht eine spontane Freundschaft, die zur Liebe wird. Marat, Anwalt in Moskau, wo er Bürgerrechtler verteidigt, weilt nur kurz zu Hause, um auf Wunsch der Mutter Brautschau zu halten. Der Festsaal ist schon gemietet . . .

Unglaublich komisch, wie er die Kür der Brautschau absolviert, die Kandidatinnen reihum ausschlägt und auf Druck der energischen Mutter sogar einen Wahrsager aufsucht. Ganijewa nutzt die Szene, um den Irrwitz von Aberglauben und Hokuspokus ad absurdum zu führen: «Dann packte [Elmuras] die Tasse mit beiden Händen, hob sie an seine Nase, und während er ‹bismillah, bismillah, bismillah› hauchte, stierte er auf die hellbraunen Schlieren der Kaffeespuren. Fast zwei Minuten vergingen. Aus einer Wanduhr schoss ein Kuckuck und rief mit schnalzender Feder. Hinter der Wand kreischte das Baby nach Leibeskräften los.»

Es ist eine unheile Welt, die Ganijewa unter die Lupe nimmt, das vermögen auch die angeblich reissfesten Familienbande nicht zu kaschieren. Marats (unehelicher) Halbbruder wird von Halilbek zu Tode gefahren, sein Freund Russik wegen eines Plakats («Ich bin Agnostiker») von jungen islamischen Fundamentalisten zu Tode geprügelt, verschleierte Mütter gebärden sich wie rasende Furien, und die Miliz agiert mit Willkür, jederzeit auf Sprengstoffanschläge gefasst. Da mögen die alten Omas geduldig Kürbiskerne schälen oder leckere Teigtaschen zubereiten, die Grundfesten dieser Gesellschaft sind faul. Kein Wunder denn auch, dass Ganijewa ihrem Idealpaar kein Happy End zugesteht.

Liebe, Rausch, Entgrenzung

Zwar wird die Hochzeit anberaumt, Patja bräutlich geschmückt und gekleidet, doch der Bräutigam gilt als vermisst. Das Wort Entführung macht die Runde. Dann nimmt alles einen seltsamen Lauf. Patja entflieht in einem alten Kaftan, eilt zum Bahnhof und steigt in den erstbesten Zug. Sie lässt die Siedlung mit ihren ärmlichen Häusern, die von Pipelines durchzogene Steppe hinter sich und fährt ans Kaspische Meer. In der «Taverne» sieht sie Marat mit Halilbek, der diesem Dessertwein einschenkt. Kein Wort, kein Adieu. Irgendwann steht sie knietief im Wasser, «den Saum ihres unförmigen Kleides eintauchend». Die Brandung rauscht, «und alles war so gut, dass es gar nicht besser sein konnte. In einem Punkt beschlossen.»

Ein fast mystischer Schluss, der – wie Christiane Körner in ihrem Nachwort schreibt – sufistische Traditionen des Islams aufgreift. Statt Buchstabengläubigkeit gelten hier Liebe, Rausch, Entgrenzung und spirituelle Einheit, wofür Ganijewa Wein und Meer als Symbole einsetzt. Also doch ein glückliches Ende? Vielleicht, wenn auch in einem ungewohnten Sinn. Transzendiert werden starre Sitten und Bräuche, transzendiert auch die Schuldfrage: Ist der vielbeschworene Halilbek ein Verbrecher oder Heiliger? Wir wissen es nicht. Der Punkt aber ist unmissverständlich ein Punkt, in dem die widersprüchlichsten Fäden zusammenlaufen. Zu fragloser Freiheit. Das klingt versöhnlich, setzt Alissa Ganijewas kritische Sicht auf dagestanische Verhältnisse aber mitnichten ausser Kraft.

Alissa Ganijewa: Eine Liebe im Kaukasus. Roman. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Christiane Körner. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016. 239 S., Fr. 31.90.