Die nackten Araber

Entblössung gab und gibt es im Islam, weder Prüderie noch Bilderverbot haben sie verhindert. In der Nahda, der «arabischen Renaissance», blühte sogar die Aktmalerei.

Ulrich Schmid, Beirut
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Ein Bild aus entspannteren Tagen – Moustapha Farrouk: «The Bathers of Darat Juljul», 1936, Öl auf Leinwand. (Bild: Emile Hannoche Collection)

Ein Bild aus entspannteren Tagen – Moustapha Farrouk: «The Bathers of Darat Juljul», 1936, Öl auf Leinwand. (Bild: Emile Hannoche Collection)

Die nackte Araberin lag am Mittelmeerstrand bei Netanya in Israel. Sie war eine starke Raucherin, an die siebzig Jahre alt, dunkel und drahtig und sagte: «Sie würden mich vermutlich umbringen.» Die Rede war nicht von den Horden des Islamischen Staats, der sich zu dieser Zeit ziemlich genau 80 Kilometer nordöstlich in Syrien festsetzte, sondern vom konservativen Teil ihrer Familie: von den Patriarchen im palästinensischen Hebron, von rabiaten, «gläubigen» Brüdern und willfährigen Vettern, die alle bis heute den Akt der Entblössung als Entehrung empfinden. Die Jungen seien die Gefährlichen, sagte sie: «Intolerant, ignorant, stupid devot.» Sie rauchte «American Spirit».

Saida, so hiess die nackte Araberin, hatte in Haifa und Moskau studiert. Hüllenlosigkeit war für sie ebenso Ausdruck ihrer Abneigung gegen nasses Badezeug wie Demonstration persönlicher Freiheit. «Beides ist mir gleich wichtig», sagte sie und zog den Geist Amerikas in die Lunge. Dass Frauen wie sie heute den Zorn muslimischer Religionsführer auf sich ziehen, dass die Freiheit von Netanya auch eine Freiheit von Netanyahus Gnaden ist, die sie sich an arabischen Stränden, am Golf, am Roten Meer oder in Syrien nicht nehmen könnte, war ihr klar. Ebenso, dass es nicht immer so war.

Die Periode der «Nahda»

Saida ist Historikerin. Eloquent erinnerte sie sich daran, dass in den Sechzigern und Siebzigern der Furor des Fundamentalismus mit seinen Schals, Schleiern und Schleppen noch weit war, dass Frauen von Kairo bis Teheran Miniröcke und High Heels trugen und sich schminkten. Sie tat es auch. Heute erzählt sie ihren Studenten von der Periode der «Nahda» Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, die oft die «arabische Renaissance» genannt wird. Während der Nahda gab es in Ägypten, Palästina, Syrien und Libanon im Vergleich zu heute geradezu unerhörte Freiheiten: Aktmalerei, ja Nudismus.

Es ist in dieser Zeit islamistischen Terrors, die nach dem Vorurteil förmlich giert, richtig, sowohl den Islamophoben im Westen als auch fanatischen Muslimen hie und da unter die Nase zu reiben, dass «der Araber» auch schon ganz entspannt daherkam. Er ist nicht so, wie ihn das Klischee haben will, nicht immer hörte er devot auf Autoritäten, wenn es um Gott, Hölle und Sünde, Nacktheit und Versuchung ging.

Von der Nahda hat in diesen Monaten die grandiose Ausstellung «The Arab Nude – the Artist as Awakener» in der American University von Beirut Zeugnis gegeben, welche die Kuratoren Kirsten Scheid und Octavian Esanu in jahrelanger Arbeit zusammentrugen. Sie umfasste Hunderte von Aktdarstellungen und Skulpturen, meist aus Libanon, aber auch aus Ägypten, dem heutigen Palästina und Syrien.

Omar Onsi: «A l'exposition», 1932, Öl auf Leinwand, 45 x 37.5 cm. (Bild: Samir Abillama Collection)

Omar Onsi: «A l'exposition», 1932, Öl auf Leinwand, 45 x 37.5 cm. (Bild: Samir Abillama Collection)

Pädagogische Überfrachtung

«The Arab Nude» in Beirut gab sich zurückhaltender als die Ausstellung «Le Corps découvert» am Institut du Monde Arabe in Paris 2012, die noch etwas nach dem «Skandal» geschielt hatte. Kirsten Scheid legte mehr Wert auf Breite, historischen Kontext und die erhellende Kraft des Anekdotischen. Wer hätte schon gewusst, dass die Künstler der Nahda mit dem Genre der Aktmalerei Lebensgewohnheiten zu überwinden trachteten, die sie als typisch für die «arabische Vergangenheit» betrachteten: männliche Homosexualität etwa. Die Neuerer kultivierten einen dezidiert maskulinen und heterosexuellen Erotizismus; dass dazu weibliche Ergebenheit gehörte, war für sie selbstverständlich. Der Nahda und ihrem führenden «Triumvirat», bestehend aus Moustafa Farroukh, César Gemayel und Omar Ousi, in platter Manier ein heutiges westliches Selbstverständnis zuzuschreiben, ginge an der Sache vorbei.

Die Kreativität allerdings kannte kaum Grenzen. Der Akt, besonders der heroische männliche, wurde genau wie in Europa zentrale künstlerische Ausdrucksform. Frauen erhielten Unterricht im Aktzeichnen und standen Modell. Legionen von Studenten pilgerten nach Rom, Paris oder Edinburg; zurück in der Heimat, stellten sie in Museen und privaten Salons aus, oft mit musikalischer Untermalung. Dandyhafte Kleidung war in. Und wie in Europa wurde die neue Kunst pädagogisch überfrachtet. Sie sollte befreien, reinigen, erlösen, sollte wahres Sehen begünstigen und den neuen Menschen erschaffen; dass sie dem hohen Anspruch nie gerecht wurde, versteht sich.

Was gelehrt wurde, wurde gelebt. In Beirut entstand eine breite nudistische Bewegung mit Lesungen, Camps und heftiger Gymnastik am Strand. In einer libanesischen Zeitung findet sich 1930 Werbung für den «Prophet Nude», ein Buch von Fuad Hubaysh, einem Freund alles Nackten und Feind jeder Korruption. Hubaysh gründete die Zeitschrift «Al-Makshuf», die erotische Literatur herausgab und Oscar Wilde verteidigte. Im Kino wurden nudistische Filme gezeigt, Nudismus wurde gepriesen als Heilmittel im Kampf gegen Erschlaffung, Verweichlichung und «Perversion». In Zeitungen und Kunstzeitschriften wurde über die Provokationen und Neuerungen hitzig debattiert.

Das arabische «Erwachen» hatte viele Gründe, einer der wichtigeren war das Bedürfnis nach Abgrenzung von allem Ottomanischen. Jahrhunderte hatten die Araber unter den Türken gelitten. Nun suchten sie nach neuen Bildern, um Abwendung und Anderssein hervorzuheben. Es ist kein Ausdruck von Geringschätzung, wenn man darauf hinweist, dass sich die Künstler der Nahda in diesem Bemühen vor allem an kulturfremden Vorbildern orientierten.

Trotz dem Bilderverbot

Die Araber erdichteten sich ihre entgrenzte Welt der einsehbaren Körperlichkeit nicht. Sicher, es gab originär Arabisches. Trotz dem islamischen Bilderverbot, das ja bis heute kontrovers diskutiert wird, war auch der Mensch in der muslimischen Welt schon immer abgebildet worden, auch nackt. Es gab die biblischen Nackten, es gab Nackte in Handschriften und Miniaturen, es gab die akademischen Nackten. Als der Kunsthistoriker Kenneth Clarke 1953 befand, einem «nichtwestlichen Gemüt» könne sich das Genre des Nackten ganz einfach nicht erschliessen, da irrte er sehr. Den Arabern war zum Zeitpunkt, in dem er diese Zeilen schrieb, das Phänomen des Nackten durchaus vertraut.

Doch eine wirklich grosse Tradition war das nicht, und so bediente man sich bei den Europäern, die sich eben, nach den Jahrhunderten christlicher Prüderie, wieder vermehrt dem entblössten Körper zuwandten. Und wie die europäische rekurrierte auch die arabische Aufklärung auf die Antike, die den entblössten Menschen schon lange vor dem Entstehen der monotheistischen Religionen zum Objekt der Kunst gemacht hatte.(Verweis)

Ganz frei im Burkini

Heute wirkt die Neugier, wirken die Freiheiten der Nahda in der muslimischen Welt wie ein Echo aus vergangener Zeit. Islamischer Fundamentalismus ist nicht nur intolerant, homophob und ignorant, er ist auch prüde. Nacktes wird aus dem öffentlichen Leben verbannt, am konsequentesten am traditionalistischen Golf und in den Staaten mit starkem islamistischem Einfluss wie Jemen, Libyen, Syrien oder Jordanien. Für Strassen und Strände gilt das ebenso wie für die Kunst, das Fernsehen und die Werbeindustrie.

Die Frau wird als Objekt augenscheinlich nicht zu zähmender männlicher Begierde konsequent verhüllt. Es gibt Frauen, die sich im Bikini an arabischen Stränden sonnen, aber zu finden sind sie vornehmlich in den liberaleren Maghrebstaaten oder dann in den «Resorts», diesen sterilen Blasen westlicher Ferienkultur. Viele Araberinnen tragen Burkini. Die einen, weil sie müssen, die anderen, weil sie wollen und sich in den nassen Lappen, die ihnen nach dem Bade am Körper kleben, wohler fühlen. Wohler, freier, befreiter.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Nacktheit hält sich, und in ihrem Habitat der Zucht hat sie sich einen besonders subversiven Charakter zugelegt. In Beirut und liberalen Städten Marokkos oder Tunesiens ist zumindest Halbnacktes keine Ausnahme. Beirut ist zudem nicht nur arabisch, sondern auch christlich. Das hat der Stadt damals, zur Zeit der Nahda, Luft zum Atmen gegeben, das tut es noch heute.

Die Furcht vor der Nacktheit

Nur wenige Kilometer vom Herrschaftsbereich des Hizbullah entfernt finden sich riesige westlich gestylte Galerien, in denen international renommierte Künstler ausstellen. Dass hier Nackte eher selten zu finden sind, hat nichts mit Prüderie, sondern ausschliesslich damit zu tun, dass Figuration als Thema der Kunst heute keine dominierende Rolle spielt. Es halten sich Nischen: In den Museen Ammans etwa finden sich durchaus Akte. Die Museen am Golf allerdings bleiben zahm.

Ein Affront ist Nacktheit in der arabischen Welt trotz aller demonstrierten Prüderie nur für wenige. Das Internet funktioniert. Herausforderung ist sie dennoch. Die Herrscher, vor allem die religiösen, fürchten sie. Schon immer war Nacktheit auch Symbol für Freiheit und Befreiung, man denke an die «Merveilleuses», die dem Terrorregime nach der Französischen Revolution mit kalkulierter Frivolität und heiterem Exhibitionismus begegneten.

Nackt demonstrieren Musliminnen auch heute noch, allerdings nicht in der arabischen Welt, sondern in der Stadt, welche die Blutsäufer des Islamischen Staats als Hort der Sünde schlechthin ausgemacht haben, in Paris. Die Femen-Aktivistinnen, die 2013 in Tunis demonstrierten, waren Europäerinnen, und ihr Auftritt kam weder in Europa noch im Maghreb gut an. Viele vermuteten, er werde lediglich dazu beitragen, die Konservativen zu stärken. Das mag sein. Dennoch belegt der allgemeine Aufschrei, wie sehr Nacktheit im arabischen Raum heute stigmatisiert wird, selbst in einem so «fortschrittlichen» Land wie Tunesien. Die Nudisten der Nahda von einst hatten es leichter.