Sprengt die Häuser!

In Neapel werden vernachlässigte Grossbauten abgerissen. Sie wurden einst als Musterbeispiele des sozialen Wohnungsbaus der 1970er Jahre in Italien gefeiert.

Gabriele Detterer
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Sozialbauten im Stadtteil Scampia. (Bild: Imago)

Sozialbauten im Stadtteil Scampia. (Bild: Imago)

Noch immer ist die Sicht auf Neapel und den Golf phantastisch schön. Sobald man aber die Küste in Richtung Norden verlässt, scheint man vom Himmel in die Hölle zu gelangen: genauer in den unter Bandenkriminalität und dem Drogenhandel der Camorra ächzenden Stadtteil Scampia. Dieser soll nun laut amtlichem Beschluss saniert werden – mit Abrissbirne und Dynamit. Wie schlimm es um das von riesigen Sozialbauten geprägte Quartier steht, erfuhr die Welt durch den 2006 erschienenen und bald darauf verfilmten Roman «Gomorrha» von Roberto Saviano. Im Kino flimmerten als Tatorte die Vele di Scampia, die Segel von Scampia, über die Leinwand.

Megastrukturen

Mit den Vele di Scampia gemeint sind markante, 14-stöckige Gebäude, deren Form an Segel erinnert. Von weitem betrachtet, wirken die durch Sonnenterrassen abgestuften Hochhäuser, die in den 1960er und 1970er Jahren errichtet wurden, gut abgestimmt auf die mediterrane Küstenlandschaft. Ähnliche Entwürfe wurden damals auch im südfranzösischen Ferienort La Grande-Motte realisiert. Die Vele von Neapel aber sollten nicht Touristen, sondern Familien mit kleinem Geldbeutel modernes Wohnen ermöglichen.

Ursprünglich wurde der aus sieben bis zu 45 Meter hohen Wohnsegeln bestehende Komplex als Vorzeigebeispiel modernen Sozialwohnungsbaus gelobt. Die vom Architekten Franz Di Salvo (1913–1977) entworfenen Bauten lehnten sich an Le Corbusiers Wohnmaschinen an. Auch Megastrukturen, wie sie 1960 in der Ausstellung «Visionary Architecture» des New Yorker MoMA zu sehen waren, und Kenzo Tanges metabolistische Grossformen dürften das Vela-Modell beeinflusst haben. Radikal unterscheiden sich die stufenförmig aufgeschichteten Wohneinheiten hingegen von den in Italien lange gebräuchlichen Laubenganghäusern der einfachen Leute, und sie zementierten eine neue Form von Stadtentwicklung. Ahnte damals wirklich niemand die soziale Problematik dieser Architektur?

Vermutlich hatte der Architekt keine Vorstellung davon, wie sehr das Wegnetz und die Freiflächen im Innern der Vele sowie der Aussenraum den Drogendealern in die Hände spielen würden. Zu wenig bedachte Di Salvo soziale Aspekte wie die grosse Zahl an Bewohnern mit niedrigem Einkommen, die Altersstruktur und die hohe Arbeitslosenquote. Ebenso unterschätzt wurden die Erschliessung und der enorme Kostenaufwand für Wartung und Instandsetzung der Betongebäude. So konnte die Camorra die maroden, von Hunderten Familien bewohnten Schiffe entern. Auf die dadurch ausgelöste Abwärtsspirale reagieren nun die Behörden mit der Entscheidung: Weg mit den Häusern! Buttare giù! Abreissen!

Umsiedlung

Bereits zwischen 1997 und 2003 verschwanden drei der sieben Vele von der Bildfläche. Doch der Sumpf von Scampia, in dem Drogenbanden und die Camorra sich bewegen, wurde dadurch nicht trockengelegt. Nun will man dem Bösen den Wind aus den Segeln nehmen, indem man weitere dieser monströsen Vele abreisst. Die amtlich verordnete Umsiedlung von Bewohnern lief bereits an. Die Familien der zum Abriss bestimmten Gebäude ziehen ein Stück weiter in neu errichtete Case popolari – standardisierte fünfstöckige Flachdachbauten.

Ein Segel jedoch, so heisst es, soll erhalten bleiben. Es soll saniert werden und künftig kommunalen und sozialen Funktionen dienen. Vela celeste lautet der Name dieses Mahnmals einer gescheiterter Sozialbaupolitik. Finanziert werden soll der Umbau des verbleibenden Gebäudes mit Geldern aus der leeren Staatskasse in Rom.