Düsseldorf Die unterschlagenen Anfänge von Kraftwerk

Düsseldorf · Über ihre ersten Alben breitet die Gruppe den Mantel des Schweigens. Dabei entfalten sie bereits die Mensch-Maschine-Ästhetik.

Jetzt veröffentlichen sie ihren Katalog noch einmal, gewissermaßen die historisch-kritische Ausgabe ihres Werks. Acht Platten sind in der neuen Box enthalten, von "Autobahn" (1974) bis "Tour de France Soundtracks" (2003). Wer sich mit Kraftwerk ein bisschen näher beschäftigt hat, weiß indes, dass da ja noch drei weitere Platten sind, sie erschienen zwischen 1970 und 1973, allerdings tun die Musiker so, als gäbe es sie nicht. Als "Archäologie" hat Florian Schneider diese Veröffentlichungen im Nachhinein abgetan. Einmal sagte er sogar: "Ich erinnere mich nicht." Die Alben erschienen denn auch nie offiziell als CD oder Download, man findet sie nur zu mitunter dreistelligen Preisen auf Plattenbörsen, sie wurden nicht neu aufgelegt, und das, obwohl sich die LP "Kraftwerk 1" gut verkauft hat und Platz 30 der Charts erreichte.

Umso spannender ist es, unter den Mantel des Schweigens zu blicken. Man findet in dieser Werkphase nämlich bereits fast alles von dem, was das spätere Konzept Mensch-Maschine charakterisiert. Und man erkennt, woher Kraftwerk die Inspiration bezogen. Die Innenhülle des ersten Albums etwa schmückt eine unbetitelte Arbeit der Fotokünstler Bernd und Hilla Becher, sie zeigt einen Transformator, der auf Schienen steht.

Die Verbindung zu den Bechers ist besonders interessant, weil das Künstlerpaar im Jahr vor Erscheinen der ersten Kraftwerk-LP eine Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf hatte. Im Katalog zur Schau gibt es einen Essay, der die Fotografien als "Anonyme Skulpturen" bezeichnet. Ziel der Bechers war es, gestochen scharfe Abbildungen von Häusern, Wasser- oder Fördertürmen zu produzieren. Ihre Kunst ist sachlich, ihre Ästhetik zielt auf Verstehen, Erkennen und Lernen. Deshalb arrangierten sie Einzelfotos zu "Typologien", zu Gruppen von neun oder 15 Arbeiten, in denen eine Entwicklung sichtbar wird.

Vor allem das Sachbezogene und Formbetonte dieser Kunst entspricht dem Werk Kraftwerks. Auch Florian Schneider und Ralf Hütter suchten ihre Themen im Alltag. Auf den Hüllen der ersten drei Alben findet man als Erkennungszeichen einen Leitkegel, Pylon genannt, der als Symbol für Verkehr, Fortbewegung und Dynamik steht. Kraftwerk überhöhen das Objekt, entreißen es dem Strom der Zeit. Die Gruppe komprimiert, reduziert, sucht die pure Form - ebenso wie die Bechers auf dem Feld der Fotografie.

Ein anderer Einfluss ist das Künstler-Duo Gilbert & George. Die Londoner traten 1970 in der Kunsthalle Düsseldorf als "living sculptures" auf, als lebende Skulpturen also. Sie ernannten sich in ihrer Performance selbst zum Kunstwerk, sie verbanden Kunst und Alltag. Drei Jahre nach dem Auftritt veröffentlichte Kraftwerk die Platte "Ralf & Florian". Für das von Emil Schult gestaltete Cover ließen sich Hütter und Schneider im Stil von Gilbert & George fotografieren. Sie scheinen in Alterslosigkeit erstarrt. Hütter trägt das Haar lang und gescheitelt. Schneider trägt Anzug und am Revers eine Brosche in Notenform, die auf der Hülle zu "Trans Europa Express" wieder auftauchen wird.

"Ralf & Florian" dokumentiert die größtmögliche Distanz zu allem, was man gemeinhin mit Rockmusik verbunden hat. Die Posen des Rock wurden schockgefrostet und in tausend Teile zerschlagen. Schneider und Hütter treten jetzt als Melodienmechaniker auf, sie sind mit dieser Platte endgültig zu Kunstfiguren geworden. Wir haben es nun nicht mehr mit Musikern zu tun, sondern mit Industriedesignern aus dem Kling-Klang-Labor.

Das Verblüffende an den ersten Alben ist zudem, dass auch musikalisch der Kraftwerk-Stil vorempfunden ist. 1969 veröffentlichten Hütter und Schneider ein Album unter dem Bandnamen Organisation, allerdings ausschließlich in England. Schon damals hörte man im 20 Minuten langen Titelstück "Tone Float", um was es Kraftwerk heute noch geht: das Gefühl und den Zustand von Bewegung und Bewegtwerden in Klang zu übersetzen. Auf jeder der drei folgenden, heute von der Band ignorierten Platten, ist denn auch mindestens ein langes Stück, das wie eine Vorstufe dessen klingt, was 1977 auf der zweiten LP-Seite von "Trans Europa Express", vor allem im Stück "Metall auf Metall", als Ideal dasteht, als reine Form: Nicht der perfekte Popsong interessiert Kraftwerk, sondern größtmögliche Klarheit, maximale Reduktion und die vollkommene Oberfläche.

Die frühen Platten dokumentieren, wie rasch Hütter und Schneider ihr Thema gefunden und wie intensiv sie an der Perfektionierung gearbeitet haben. Mit dem Einsatz des Synthesizers endete die Vorbereitungsphase: Seit die technischen Möglichkeiten da waren, die bereits zum Klingen gebrachten Rhythmusspuren und Melodiebögen neu zu berechnen, wurden sie abermals ausgewertet, und zwar nicht länger auf klassischem oder selbstgebautem Instrumentarium, sondern von Maschinen. Aus Experiment wurde Pop, und "Autobahn", das erste kanonische Kraftwerk-Album, ist zugleich das erste nahezu rein maschinenbasierte.

Seit 1974 treten Kraftwerk als die seltsamen Ingenieure auf, die die 168-Stunden-Woche eingeführt haben, immer in Bewegung sind und nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit unterscheiden. Sie werkeln ganz bewusst an ihrer eigenen Abschaffung; der Urheber der anonymen Skulpturen soll überflüssig werden, sein Werk erneuert sich selbst: Er stößt bloß an, die daraus resultierende Bewegung dauert ewig. "Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen", heißt es 1986 in "Musique Non Stop".

Die Zeit rast, und der Blick zurück zeigt, dass Kraftwerk längst da ist, wenn die Zukunft beginnt.

(hols)
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