Venedig Gespenster des Digitalzeitalters

Venedig · Der deutsche Pavillon gewann bei der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen. Gestaltet hat ihn die Künstlerin Anne Imhof.

Überraschend kommt die höchste Auszeichnung der Kunst-Biennale von Venedig nicht: Anne Imhof hat den Goldenen Löwen bei der Biennale in Venedig bekommen, und schon bei der Vorbesichtigung hatte sie sich mit ihrem gesellschaftskritischen Gesamtkunstwerk aus Musik, Film, Aktion, Installation und bildender Kunst von den Mitbewerbern abgesetzt.

Selten traf die Kategorie Shootingstar so ins Schwarze wie bei der Performerin, die den deutschen Pavillon in der Lagunenstadt bespielt. Gerade mal fünf Jahre seit ihrem Abschluss an der Städelschule haben der 39-Jährigen gereicht, um sich in den Olymp des globalen Kunstbetriebs zu katapultieren. 2013 ging ihre Performance "School of the Seven Bells" im Frankfurter Portikus noch als Entdeckung durch. Die jungen Darsteller, die sich wie angehende, noch nicht ganz so fingerfertige Taschendiebe bewegten, lösten mit der Weitergabe von Diebesgut immer wieder einen Alarmton aus, machten bei dem Manöver aber durchaus den Eindruck attraktiver Zeitgenossen. Schönheit ist Imhof wichtig, aber nicht um den Preis gefälliger Kunst.

Preise der Anerkennung regnete es bereits früh. Der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst etwa, den Imhof zwei Jahre später gewann, erlaubte ihr einen Quantensprung. Sie stemmte nichts weniger als eine ganze Werkreihe an drei Orten: in der Kunsthalle Basel, im Hamburger Bahnhof in Berlin und bei der Biennale de Montréal. Zwischendurch zeigte auch das MoMA PS1 ihre zwei Tage dauernde Performance "Deal". Danach standen ihr offenbar auch die letzten Türen offen. Der dreiteilige Opus "Angst" galt als ein meisterhafter Wurf, griff Imhof darin doch auf ein beachtliches Medienspektrum zurück, von Zeichnung und Malerei über Texte und skulpturale Elemente bis hin zum Tanztheater. Vor allem im Hamburger Bahnhof bewies die Universalkünstlerin, die sich auch schon mal als Türsteherin und Frontfrau einer Band ausprobiert hat, dass ihr große Räume keine Angst einjagen. Im Gegenteil. Imhof und ihre Akteure meisterten die Herausforderung trotz der Abwesenheit einer linearen Handlung souverän. Und das über Stunden. Die beste Voraussetzung also, um den gigantomanischen Bau des deutschen Pavillons in den Griff zu bekommen.

Imhofs Soloauftritt in Venedig hat den Vorteil, dass er sich auf den Einsatz eines veritablen Kollektivs von rund 30 Mitwirkenden verlassen kann. Schon bei ihrer ersten Videoarbeit von 2003 setzte sie auf die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern. Die Fotografin Nadine Fraczkowski gehört bis heute zu ihren engsten Mitarbeitern, ebenso wie der Komponist Billy Bultheel. Andere bringen Erfahrungen aus der Malerei mit. Imhof hat Tänzer im Team, die in der Frankfurter Company von William Forsythe mitgewirkt haben.

Die mal leisen, mal wilden Gesten des Bewegungsablaufs waren in "Angst II" im Hamburger Bahnhof exakt gesetzt, die ferngesteuerten Drohnen und lebenden Raubvögel sorgten eingetaucht in Nebelschwaden für eine unwirkliche Atmosphäre und die historische Bahnhofshalle dehnte sich ins Unendliche, gab aber zugleich den Rahmen für andere rätselhafte Erzählungen. In der Oper, denn also solche wollte Imhof das Stück verstanden wissen, wechselten sich poetische Szenen mit Schreckensmomenten ab. Eine Frau balancierte auf einem Drahtseil, andere machten es sich auf Schlafsäcken bequem oder spielten mit ihrem Smartphone. Die Blicke suchten ein Gegenüber, um dem starren Gesicht vielleicht doch einen anderen Ausdruck abzuringen. Düstere Melancholie schwebte über dieser verlorenen Jugend. Dann löste sich alles in Ungewissheit auf. Untermalt hatte Imhof die Andeutungen zwischenmenschlicher Begegnungen mit Renaissance-Gesängen. Wer es wollte, konnte diese unglücklichen Gestalten als früh gealterte Gespenster des Digitalzeitalters deuten.

Imhofs Kunst ist offen und der Impuls zur Interpretation erwünscht. Kein Wunder, dass Susanne Pfeffer, Direktorin der Kunsthalle Fridericianum in Kassel, als Kommissarin für den Deutschen Pavillon beherzt zugriff. Seitdem steht Imhof in einer illustren Reihe mit Vorgängern wie Gerhard Richter, Joseph Beuys, Hanne Darboven, Candida Höfer, Sigmar Polke, Christoph Schlingensief oder Ai Weiwei.

Imhofs Performance "Faust" ist ein Triumph. Das fünfstündige Gesamtkunstwerk spannt in lebenden Tableaus einen Bogen von dem Diktat der Körperoptimierung über den Wunsch nach Abschottung bis zur Flüchtlingskrise und der neu erwachten Phobie vor abweichenden Lebensentwürfen. Ein Panzerglasboden trennt Menschen voneinander. Die einen stellen sich zur Schau und spielen Machtspiele. Die Besucher betrachten das mitunter brutale Geschehen wie im Zoo aus sicherer Distanz und befinden sich doch mittendrin. Gitter umgeben das monumentale Gebäude, damit die, die drin sind, ihr brüchiges Sicherheitsgefühl nicht verlieren. Die zwei eingezäunten Dobermänner vor dem Eingang verheißen nichts Gutes für diese ungleiche Gemeinschaft. In ihr regiert die faustische Sehnsucht nach Selbstüberhöhung. Zwischen Ohnmacht und Willkür lässt Imhof Funken des Widerstands aufblitzen. Sie hält uns einen deprimierenden Spiegel vor und gibt Hinweise auf Möglichkeiten der Rebellion gegen Unmenschlichkeit.

(RP)
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