Zum Inhalt springen

Abgehört - neue Musik Wer braucht schon Körper für die Liebe?

Liebe macht unverwundbar: Auf seinem triumphalen neuen Album befreit sich Perfume Genius von der Last des Physischen. Außerdem: Country-Newcomer Colter Wall, ein R&B-Vamp Nite Jewel und Folk-Avantgardistin Juana Molina.

Perfume Genius - "No Shape"

(Matador, seit 5. Mai)

Nach dem Exorzismus kommt die Ekstase! Von Mike Hadreas, einem talentierten Schmerzensmann des queeren Pop, hätte man vieles erwartet, aber kein jubilierendes Album über Glück und Liebe. Vor drei Jahren trieb sich der Musiker und Sänger aus Seattle mit seinem schockierend extrovertierten Album "Too Bright" die letzten Dämonen aus, durchleuchtete seinen von Drogensucht und Morbus Crohn gebeutelten Körper mit pulsierender Laserstrahlen-Musik und heilendem, sakralem Future-Soul. Von dort aus hätte es noch tiefer in die Düsternis des Selbstauslotens gehen können.

Doch Hadreas entschied sich, Lieder der Befreiung zu schreiben: Die meisten Songs von "No Shape" handeln davon, wie er mit seinem langjährigen Lebenspartner Alan Wyffels zu Frieden, Harmonie und Geborgenheit gefunden hat - zu einem Bollwerk der Liebe wider die Diskriminierung, den gesellschaftlichen Konformitätsdruck - und den ewigen Selbsthass.

Es geht um Transzendenz auf dieser bemerkenswerten Platte, die sich gängigen Trends weitgehend entzieht - zugunsten eines opulenten, genredurchdringenden Pop-Sounds. Barock und Funk, Rock und Folk, R&B und streichersatte Kammermusik gehen hier, raumgreifend analog von Blake Mills (Laura Marling, Jesca Hoop) produziert, so leichthändig zusammen, wie man es in so souveräner Form nur aus den Achtzigerjahren kennt. Nicht umsonst erinnern Stücke wie "Run Me Through" mit sehnend langgezogenen Vocals in sphärischem Zauberwald-Dunst an Talk Talk, "Go Ahead" mit seinem minimalistischen Swing an Prince.

Bevor es zu solchen Feinheiten kommt, muss jedoch zunächst der letzte Rest des beschwerenden irdischen Kokons weggesprengt werden. Eine Minute und zehn Sekunden im Opener "Otherside" durchbricht eine klirrende Klangkaskade aus Synthie-Gewitter und Chorälen das zuvor introvertierte Pianogeklimper.

"Slip Away", im März als erste Single veröffentlicht, behauptet mit lebhaftem Klöppeln, jubilierendem Refrain und weißem Lärm den neuen Status quo in Hadreas' Gemütswelt: "Oh, ooh love/ They'll never break the shape we take". Die im Albumtitel annoncierte Formlosigkeit bezieht sich auf das buchstäblich Unbegreifliche der Liebe, ein körperloses, freies Radikal, immun gegen physische Gewalt und körperliches Übel. "They're rough/Smother them with velvet" wird dieses Erhabene, Weiche und Amorphe im fingerschnippenden, auf Zuckerwatte surfenden "Just Like Love" propagiert.

"How long must we live right/ Before we don't even have to try?" stellt Hadreas dann in "Valley General" die Frage, die weit über sein privates Schicksal hinausreicht - in die Sehnsucht queerer Menschen nach bedingungsloser Akzeptanz. Die Antwort für sich hat er, so unwahrscheinlich, berauschend und irreal es sich auch anfühlen mag, gefunden, wie er am Ende, im elegischen "Alan" formuliert: "Everything is alright (...…) I'm here/ How weird".

Dazwischen gibt es grandiose, zärtliche und selbstgewisse Pop-Momente wie das Kate Bush zitierende Befreiungs-Manifest "Wreath" ("Running up that hill/ I'm gonna peel off every weight"), das berührend-schwülstige Falsett in der Asphyxiations-Allegorie "Die 4 You" oder das mit Gitarrennadelstichen über Zweisamkeit versus Einsamkeit meditierende "Sides" im Duett mit Natalie "Weyes Blood" Mering. "Baby, it ain't easy to love" singen beide darin auf den Schlussakkord: Dass Mike Hadreas trotzdem zur Liebe gefunden hat, ist sein bisher größter Triumph. Privat wie künstlerisch. (8.7) Andreas Borcholte

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.


Colter Wall - "Colter Wall"

(Young Mary's Record Co., ab 12. Mai)

Huch, wer ist denn der alte Mann, der da singt? Ein lange vergessener Country- und Bluegrass-Veteran, den die Crate-Digger von Light In The Attic aus der Obskurität gebuddelt haben? Nö. Colter Wall ist 21 Jahre alt, stammt aus dem kanadischen Saskatchewan, wo es außer viel Prärie und ein paar kargen Felsen nicht viel gibt - und wurde unlängst von Auskennern wie Steve Earle und Rick Rubin mit reichlich Vorschusslob bedacht. Produzenten-Pate Rubin staunte vor allem über die "agelessness" des jungen Sängers, dessen Stimme klingt, als wäre er als Kind in ein Eichenfass voll Whiskey gefallen und hätte auf den Schock ein paar Kartons Camel ohne geraucht.

Genre-affinen Hörern könnte Colters Song "Sleeping On The Blacktop" letztes Jahr bereits auf dem Soundtrack des sehr guten Neo-Westerns "Hell Or High Water" aufgefallen sein. Auf seinem Debüt-Album wirkt er nun noch sonorer, noch verwurzelter in seinen sehnsüchtig auf Akustik- und Pedal-Steel-Gitarre dahinwalzernden Country-Balladen.

Mit dem Sixpack/Pickup-Truck Country-Pop zeitgenössischer Nashville-Hitzköpfe hat Colter Wall nichts zu tun. Sein profunder, zum Glück nie hoch hinaus jodelnder Rollsplit-Bariton mit Cowboyhut und Schnauzer, der am ehesten an Tim Rose und Calvin Russell denken lässt, schleppt sich melancholisch zurück in die Sechziger und Siebziger, zu den Folk-Facetten von Johnny Cash und Merle Haggard mit modernistischen Umwegen über Will Oldham, Bill Calahan und Bob Dylan. Colters Geschichten handeln vom ramblin', vom Kauf des Flucht-"Motorcycle", mit "Thirteen Silver Dollars" in der Tasche, vom fiebrigen "Codeine Dream" des Vergessens der Verflossenen ebenso wie vom mysteriösen Mord an "Kate McCannon" und enden beim alten Appalachen-Traditional "Fraulein" (mit Gastsänger Tyler Childers, der neben Colter wie ein Bubi klingt. Kurios).

Alle Songs dieses magischen "Snake Mountain Blues" handeln von realen privaten Erlebnissen, sagt Colter. Nennt ihn meinethalben Highwayman oder High Plains Drifter - Hauptsache, Ihr hört ihm zu. (7.7) Andreas Borcholte


Juana Molina - "Halo"

(Crammed Discs, seit 5. Mai)

Wer soll da noch durchblicken? Folktronica, Freak-Folk, Psychedelia, Indie-Pop, Ambient, Chill-Out und Experimental - alles auf einmal soll "Halo" sein. Uff. Man könnte Juana Molina jedoch kein größeres Kompliment machen: Auch nach über 20 Jahren stiftet die Argentinierin noch Verwirrung. Die 54-Jährige hat sich schrittweise ihr eigenes Habitat geschaffen, das immer genau dort liegt, wo sich das Fassungsvermögen von Schubladen erschöpft - einen Lebensraum zwischen den Stühlen, könnte man sagen.

Womöglich blieb ihr schlicht nichts Anderes übrig: Molina ist zwar Tochter eines berühmten Tango-Sängers, wurde aber zuerst einmal als TV-Komikerin berühmt. Ende der Achtzigerjahre hatte sie sich mit einem selbstgedrehten Sketch beim argentinischen Fernsehen beworben und war prompt Teil der erfolgreichen Show "La noticia rebelde" geworden. Wenige Jahre später hatte sie ihre eigene Show und war auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ein Star, es lief.

1994 beschloss sie dann, die Karriere an den Nagel zu hängen und sich ihrer alten Liebe zu widmen, der Musik. Als zwei Jahre später ihr Debüt "Rara" erschien, wurde es jedoch von der Kritik als zu experimentell verrissen. Daran änderte vier Jahre später das elektronischere "Segundo" auch nichts - ein klassischer Rohrkrepierer.

Und rückblickend ein Glücksfall. Ohne das vermeintlich frühe Scheitern ihrer Musikkarriere hätte sich Molina wohl nie so konsequent an der Rolle der handelsüblichen Singer-Songwriterin vorbeientwickelt. Ihr siebtes Album "Halo" ist nun eine weitere wichtige Wegmarke ihrer Reise zum Herzen internationaler Leidensmusik.

Molina legt darauf die Akustikgitarre zur Seite und formuliert ihren verkabelten, subtil dekonstruierten Folk mit ungekanntem Nachdruck aus. Wie das klingt? Über weite Strecken wie vertonte Oberflächenspannung: "Halo" schrumpft Latin, Blues, Tango und weltgewandten R&B zu einem verträumten Flüstern aus Synthesizern, entrückten Drums und dissonanten Marimbas, Kalimbas und Gongs.

"Halos" größte Stärke sind dabei unterschwellige Rhythmen, die Molina über ihre äußerst geschickte Produktion einstreut. Versatzstücke der sanft ohrfeigenden Synkopen des Tangos treffen auf verschüttete 808-Beats und derangierte Jazz-Trümmer. Manchmal aber muss Molina ganz ohne Instrumentarium für den Rahmen sorgen: Im Album-Highlight "Lentísimo Halo" etwa, wo sie ihre Stimme den Windungen des Mississippi-Blues nachlaufen lässt.

Wie man ein so bemerkenswertes Stück Musik am Ende nennt? Versuchen wir es in Zukunft einfach mit Molina-Musik. (8.2) Dennis Pohl


Nite Jewel - "Real High"
(Gloriette Records, seit 5. Mai)

Die Musik von Ramona Gonzalez alias Nite Jewel zu beschreiben, ist relativ einfach: Zu den entscheidendsten Einflüssen der Sängerin und Komponistin aus Kalifornien gehören Janet Jackson, Mariah Carey und das britische Ambient-Elektro-Duo Autechre - alles klar, oder? Trotzdem entzieht sich die zuckrig-kristalline Musik, die sie nun auch auf ihrem dritten Album kultiviert, jeglicher Einordnung: Ist das nun schwebender Neunzigerjahre R&B-Pop von "Janet" über Maxi Priest bis PM Dawn ("Had To Let Me Go"), Italo-Disco-Nachsinnen, das sich auf Johnny-Jewel-Samplern oder neonfarbenen Cliff-Martinez-Soundtracks gut machen würde ("I Don't Know")? Oder in Jazz- und TripHop ausgreifender Avantgarde-Soul ("The Answer", "Who U R")?

Das weiß Gonzalez, die einem breiteren Kritikerpublikum vor zwei Jahren mit ihrem gefeierten Album "Liquid Cool" bekannt wurde, vielleicht auch nicht so genau, aber die stilistische Offenheit ist Absicht, Gonzalez teilt sie mit anderen mutigen R&B-Künstlerinnen wie Kelela, FKA twigs und Abra. Ihre mit glockenheller Stimme betörend vorgetragenen Lieder handeln vom Offenlassen, vom elektrisierenden Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz, vom lustvollen Anlocken und kühlen Wegstoßen.

Ähnlich wie ihre gute Freundin Julia Holter zuletzt, hat sich Gonzalez auf "Real High" für eine vordergründige Vereinfachung ihres komplexen Sounds entschieden. Sie bleibt bei jeder noch so unterlippenbeißend schwülen Sweetness das souveräne Subjekt, das alle Kontrollfäden in der Hand behält. "When I decide (It's Alright)" bestimmt sie, der "Obsession" verfällt hier nur das (möglicherweise männliche) Gegenüber: "You want to talk all night, but I have some other plans", singt sie ungeduldig in "R We Talking Long". Einfach fallenlassen. (7.5) Andreas Borcholte

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.