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Drei-Generationen-Porträt Sag Menstruation!

Der fabelhafte Film "Jahrhundertfrauen" feiert drei Generationen amerikanischer Frauen - und blickt gleichzeitig auf eine Zeit der Unschuld zurück, die niemals wiederkommen wird.
Drei-Generationen-Porträt: Sag Menstruation!

Drei-Generationen-Porträt: Sag Menstruation!

Foto: Splendid

Auf dem Parkplatz eines Supermarkts im kalifornischen Santa Barbara brennt im Jahr 1979 ein alter Ford. In diesem Auto wurde Jamie Fields vor 15 Jahren als Neugeborener vom Krankenhaus nach Hause gefahren. Seine Mutter Dorothea war damals 40 Jahre alt. Der Vater verließ die Familie vor etlicher Zeit.

Seither lebt Dorothea mit ihrem Sohn in einem großen alten Haus, in dem sie auch Zimmer vermietet. Eines hat Abbie bezogen, die in New York Punk-Gruppen und -Klubs fotografiert hat, aber nach einer Krebserkrankung aus der Metropole geflohen ist. Auch William nutzt ein Zimmer: ein stiller Spät-Hippie, der nicht recht in die Zeit zu passen scheint, sein eigenes Shampoo zusammenrührt und sich nützlich macht, indem er nach und nach Dorotheas Haus renoviert. Zudem verbringt Julie, Tochter einer benachbarten Psychologin, viel Zeit bei den Fields. Die 17-Jährige ist eng mit Jamie befreundet.

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Fotostrecke: Ganz eigene Wahlfamilie

Foto: Splendid

Drei Frauen und zwei Männer bilden also das Figurenensemble in Mike Mills' neuem, fabelhaftem Film "Jahrhundertfrauen". Drei Frauen, die in ihrer inneren Einsamkeit die Mitwelt wie hehre Königinnen überragen, und zwei Männer, von denen der ältere (Billy Crudup) praktisch unscheinbar und der jüngere noch im Werden ist.

Erzwungene Ersatzmütter

Bei einem Spiel mit seinen Freunden kommt Jamie (Lucas Jade Zumann) fast ums Leben, und Dorothea (Annette Bening) merkt, dass sie ihren Sohn und die moderne Welt, in der er lebt, nicht mehr versteht. Kurzentschlossen sucht sie Hilfe bei Abbie (Greta Gerwig) und Julie (Elle Fanning). Obwohl keine der jungen Frauen Lust darauf hat, sehen sich beide in die Verantwortung genommen für das Leben in dieser ganz eigenen Wahlfamilie.

Deren Oberhaupt ist natürlich Dorothea. Sie ist 55 "und sieht aus wie die Flugpionierin Amelia Earhart", schrieb Mike Mills in seinem Drehbuch über die Hauptfigur des Films. Dorothea wollte mal Pilotin werden; nun arbeitet sie als erste und einzige technische Zeichnerin in einer Firma. Sie notiert jeden Morgen die Börsenkurse, raucht Kette und trägt Birkenstocks, weil sie bequem sind. Sie liest "Watership Down", schnitzt dann Hasen aus Holz und hat sich schon lange mit keinem Mann mehr verabredet. So charakterisiert sie jedenfalls ihr Sohn Jamie.

Mit der Figur der Dorothea setzt der Regisseur Mike Mills nicht allein seiner Mutter ein Denkmal - er reflektiert auch gleichzeitig über den männlichen Blick auf Frauen, nämlich Jamies, Williams und seinen eigenen, und den weiblichen der drei Frauengestalten aufeinander sowie auf die Männer. Dabei entfaltet "Jahrhundertfrauen" in einer collagierten und doch epischen Erzählung erfrischend viel Komik noch in der Tragik, etwa wenn es um Mutterschaft - eines der zentralen Themen - geht.

Das Generationsproblem

Dorotheas späte Single-Elternschaft, Abbies Trauer über die der Krebserkrankung geschuldete Unfruchtbarkeit sowie ihre Begeisterung für radikale feministische Positionen und Julies Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft markieren nebenbei gesellschaftliche Positionen. Einen seiner irrsten Höhepunkte erreicht der Film, wenn Abbie eine abendliche Tafelrunde in Dorotheas Haus nötigen will, das Wort "Menstruation" ganz unbefangen auszusprechen.

Das klappt natürlich nicht. Allein schon in dieser Szene bündeln sich die Erfahrungen, Prägungen und Haltungen dreier Frauengenerationen: Die alleinerziehende Dorothea ist in den Jahren der Großen Depression aufgewachsen, als Mensch, der die Dinge mit sich selbst ausmacht - "Leute dieser Generation geben nie zu, wenn etwas schiefgelaufen ist", sagt sie einmal. Abbie hingegen ist eine freigeistige Baby-Boomerin und Julie ein typisches Kind der Siebziger.


"Jahrhundertfrauen"
Originaltitel: "20th Century Women"
USA 2016
Buch und Regie : Mike Mills
Darsteller: Annette Bening, Elle Fanning, Greta Gerwig, Lucas Jade Zumann, Billy Crudup
Produktion: A24, Annapurna Pictures, Modern People, Archer Gray
Verleih: Splendid Film
FSK: keine Beschränkung
Länge: 119 Minuten
Start: 18. Mai 2017


Als Zuschauerin ist man durchaus verblüfft über das Geschick, mit dem Mike Mills einen überstrapazierten Polit-Slogan filmisch verstrickt: "Das Persönliche ist politisch." Das die Handlung bestimmende Jahr 1979 war auch in den USA ein Jahr grundlegender Veränderungen. Die Islamische Revolution im Iran hatte begonnen, die Ölkrise setzte ein. Die ersten Apple-Computer und Schwangerschaftstests kamen in den Handel. Margaret Thatcher wurde zur britischen Premierministerin gewählt; die Gegenkultur des Punk verlor ihren Sensationswert.

1979 erlebte Jimmy Carter sein letztes Jahr im Weißen Haus: Etwa in der Mitte des Films sitzen alle gemeinsam vor dem Fernseher; die Wahlfamilie, die der Ansprache des US-Präsidenten lauscht, ist zugleich eine nationale Schicksalsgemeinschaft. Die Rede, die als "Malaise Speech" in die amerikanische Geschichte einging, wurde am 15. Juli 1979 landesweit übertragen; in ihr kritisierte Carter den wachsenden Materialismus und ungebremsten Konsum der amerikanischen Bevölkerung.

"Unschuld, zu der wir nie zurückkehren können"

Was diese Rede nicht bewirken konnte, weiß man heute, da die Überbietung als Strategie zur Norm geworden ist. "Die Zukunft kommt immer zu schnell und in der falschen Reihenfolge", konstatierte Alvin Toffler, der Autor von "Future Shock". "Die späten Siebzigerjahre waren der Anfang unserer Gegenwart", sagt Regisseur Mike Mills, "und doch lebten die Menschen damals in einer völlig anderen Welt, in der sie nichts von den bevorstehenden Veränderungen ahnten: Ronald Reagan, die Gier nach Reichtum, HIV und Aids, das Internet und seine Folgen, die Anschläge vom 11. September 2001 und die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. So gesehen ist 'Jahrhundertfrauen' wie ein Trauergesang auf eine Zeit und deren Unschuld, zu der wir nie zurückkehren können."

Wie Mike Mills' vorherige Regiearbeit "Beginners" enthält auch dieser neue Film einen autobiografischen Rückblick. Doch während "Beginners" vom Vater des Regisseurs inspiriert war - der sich im Alter von 75 Jahren als homosexuell outete -, ist "Jahrhundertfrauen" ein Liebesbrief an die Frauen, die Mills großzogen, und an ihre Stärke in Zeiten des permanenten Umbruchs. Nicht zufällig ist Dorotheas Haus wegen der nötigen Renovierung eine ewige Baustelle.

Im Video: Der Trailer zu "Jahrhundertfrauen"