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Französische Filme in Cannes Die Liebe einfangen

Franzosen widmen sich in Cannes ihrer Kultur: Claire Denis hat Roland Barthes verfilmt, Bruno Dumont die Jugend von Jeanne d'Arc als Musical inszeniert. Und Philippe Garrel führt die Nouvelle Vague endlos fort.
Szene aus "Barbara"

Szene aus "Barbara"

Foto: Festival de Cannes

Auf einem Auge blind scheint die Auswahlkommission des Wettbewerbs von Cannes mindestens zu sein, denn schon wieder hat sie die große Regisseurin Claire Denis ("Der Fremdenlegionär", "35 Rum") nicht ins offizielle Programm eingeladen. Sie eröffnete stattdessen die unabhängige Nebenreihe "Quinzaine des Réalisateurs". Dabei hätte sie mit ihrem Film sowohl die Stars für den Roten Teppich - Juliette Binoche und Gérard Depardieu - als auch den kulturellen Anspruch vereint, den sich Cannes gerne auf die Fahnen schreibt. Ihr "Bright Sunshine In" ("Le beau soleil intérieur") ist nämlich die Verfilmung von Roland Barthes' philosophischen Standardwerk "Fragmente über eine Sprache der Liebe", das aus guten Gründen als unverfilmbar gelten durfte: verfasst im essayistischen Stil mit vielen kurzen Einzelkapiteln, verfolgt es einen sehr freien und lockeren, aber ebenso komplexen Ansatz, Worte als Zeichen zu entschlüsseln, mit denen Liebe, Lust und Leidenschaft üblicherweise gemeint - und vielleicht erst geschaffen werden.

Juliette Binoche in "Un beau soleil"

Juliette Binoche in "Un beau soleil"

Foto: Festival de Cannes

Von der Schwere, nach der das klingt, ist in Denis' Film allerdings nichts zu spüren, außer in der Verzweiflung im angespannten Körper von Binoche, die die große unglücklich Liebende gibt.

Tatsächlich ist "Bright Sunshine In" zwar so intensiv wie nur wenige Liebesdramen, folgt aber gleichzeitig einer komödiantischen Struktur. Die Regisseurin, die das Drehbuch gemeinsam mit der Schriftstellerin Christine Angot ("Inzest") verfasst hat, reiht eine Szene der scheiternden Liebe an die nächste und verbindet vorsichtige Situationskomik mit scharfem Wortwitz. Mit seiner Geschichte einer Frau mittleren Alters, die sich zwischen einem verheirateten Arschloch und einem viel jüngeren Playboy aufreibt, beweist "Bright Sunshine In", wie lustig das Sprechen über Liebe sein kann. Vor allem aber zeigt der Film, wie wenig sich ein analytischer und ein emotionaler Zugang im Weg stehen müssen.

Szene aus "Barbara"

Szene aus "Barbara"

Foto: Festival de Cannes

Denis' Vorhaben ist nur einer von gleich mehreren ehrgeizigen Versuchen französischer Filmemacher beim Festival, die Kultur der Grande Nation aufzuarbeiten. Neben "Redoubtable", dem enttäuschenden Biopic des Gottvaters des modernen Kinos Jean-Luc Godard durch The Artist-Regisseur Michel Hazanavicius, findet sich in der Reihe "Un Certain Regard" ein weiteres Porträt einer französischen Ikone. Der Schauspieler Mathieu Amalric, der mit "Tournée" und "Das blaue Zimmer" seine Fähigkeiten als Regisseur unter Beweis gestellt hat, ist mit "Barbara" zurück an der Croisette.

Der Titel ist eindeutig, der Film umso verschachtelter. Natürlich geht es um die Sängerin von "Göttingen" und "Dis, quand reviendras-tu ?", aber Amalric wählt eine selbstreflexiven Ansatz. Er erzählt von einem Regisseur, der einen Film über Barbara dreht und dem dieser Film immer mehr entgleitet. Die Verführungskraft der Persona Barbara, aber auch die Eigenständigkeit von Brigitte (Jeanne Balibar), die diese Figur spielt, kommen dem Film-im-Film in die Quere. Das sorgt erst mal für eine ziemlich zersplitterte Geschichte, entpuppt sich aber nach und nach als eine besonders schöne Form der Hommage an eine eigenwillige Künstlerin.

Szene aus "Jeannette - L'enfance de Jeanne d'Arc"

Szene aus "Jeannette - L'enfance de Jeanne d'Arc"

Foto: Memento Films/ Festival de Cannes

Radikaler noch ist das in der "Quinzaine" gezeigte Musical von Bruno Dumont. Der Regisseur der Miniserie "Kindkind" und des letztjährigen Wettbewerbsbeitrags "Die feine Gesellschaft" hat sich der Nationalheldin Jeanne d'Arc angenommen. "Jeannette - L'enfance de Jeanne d'Arc" ist wie "Redoubtable" und "Bright Sunshine In" eine Adaption. Sie basiert auf dem Theaterstück von Charles Peguy "Le mystère de la charité de Jeanne d'Arc", das erstmals Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde und einen sehr merkwürdigen Ansatz wählt. Im Stil einer im Mittelalter verbreiteten Theaterform, dem Mysterienspiel, stellt er Tableaux nebeneinander, die bewusst realistische Elemente mit übernatürlichen mischen, um religiöse Geschichten zu vermitteln. Zentrales Motiv für den Autor, den Regisseur Bruno Dumont bei der Premiere in Cannes als Sozialisten und Atheisten vorstellt, ist weniger der Glaube des Mädchens, das erst noch zu Johanna von Orleans werden würde, sondern ihre Hoffnung.

Ungewöhnlich an Dumonts Film ist vor allem, dass er sich in ganz wenigen, dafür aber sehr lustigen, Szenen genügt, die noch dazu fast alle in derselben verlassenen hügeligen Landschaft spielen, und dass kaum etwas jenseits von Tanz und Gesang passiert. Mit einer Handvoll von Laien gespielter Figuren, allen voran einer Nonne, die in zwei Körpern erscheint, Jeannette selbst und ihrem rappenden Onkel, macht er die Produktion selbst sichtbar. Weder soll das professionell aussehen, noch muss es dramaturgisch aufgehen. Eins kommt nach dem anderen und macht für sich genommen Spaß.

Szene aus "L'amant d'un jour"

Szene aus "L'amant d'un jour"

Foto: Festival de Cannes

Deutlich eingängiger ist Philippe Garrels "Lover for a Day" ("L'amant d'un jour"), einer Fortführung der schönen Traditionen der Nouvelle Vague in der Gegenwart. Mit beschränktem Budget und einer aus dem Alltag gegriffenen Geschichte führt der knapp 70-jährige Regisseur ("Unruhestifter", "Eifersucht", "Im Schatten der Frauen") seine bemerkenswerte Karriere mit einem weiteren zeitlosen Liebesdrama fort. Zwei gleichaltrige Mädchen beginnen eine unwahrscheinliche Freundschaft, da sie unter einem Dach wohnen - die eine ist die Geliebte des Vaters der anderen. Garrel ist Spezialist für solche Geschichten, die mal dramatischer, mal komödiantischer ausfallen.

"Lover for a Day" hält das Gleichgewicht zwischen tragischem Herzschmerz und dem Vergnügen daran, die Liebe herauszufordern. Indem er sich auf die Beziehungen zwischen den beiden neu gewonnenen Freundinnen und der zwischen Vater und Tochter konzentriert, durchkreuzt er das Romantische. Das erzählerische Gefüge, das sich schöne Eskapaden erlaubt, wird meisterhaft zusammengehalten durch das genauso heitere wie empfindsame Schauspiel und die Kontraste der Schwarzweiß-Aufnahmen, die die Gefühle nur so zum Leuchten bringen.

Ob sie sich in Worten ausdrückt oder in Blicken: die Liebe einzufangen, sie zu provozieren und ungezähmt schalten und walten zu lassen, im französischen Kino gelingt das immer wieder. Da kann Festivaldirektor Thierry Frémaux noch so oft betonen, Cannes sei kein französisches Festival, sondern ein Festival in Frankreich. Während die offizielle Auswahl die Behauptung mit einer rekordverdächtigen Anzahl an französischen Filmen rein zahlenmäßig widerlegt, tun es die Nebenreihen mit Substanz.

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