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Dokumentarfilm "Deportation Class" Sie kommen nachts

Unterwegs mit Mecklenburgs Innenminister Lorenz Caffier: Der Film "Deportation Class" dokumentiert deutsche Abschiebepraxis - und enthüllt eine bürokratische Maschinerie, die einer eiskalten Logik folgt.
Dokumentarfilm "Deportation Class": Sie kommen nachts

Dokumentarfilm "Deportation Class": Sie kommen nachts

Foto: Pier 53

Mai 2016. Friedland, Mecklenburg-Vorpommern. In der Stille der Nacht verschafft sich ein Sonderkommando der Polizei Zutritt zu einem unscheinbaren Mietshaus. Die Beamten klingeln an einer Wohnungstür, ein in Unterwäsche gekleideter Mann öffnet schlaftrunken: "Stehen Sie auf, packen Sie zusammen, Sie werden abgeschoben."

Im Hintergrund hält sich ein älterer Mann mit Schiebermütze, Schnäuzer und weißem Hemd auf . Auf dem Ärmel ist das Landeswappen Mecklenburg-Vorpommerns erkennbar. Er scheint das Geschehen zu überwachen und lässt sich mit "Herr Minister" anreden. Bald stellte sich heraus: Der anfangs mysteriöse Mann ist Lorenz Caffier, CDU-Innenminister des Bundeslandes.

In dieser Frühsommernacht soll die Familie von Vater Gezim A. über den Flughafen Rostock nach Albanien abgeschoben werden, zusammen mit bis zu 225 anderen. Doch seine Tochter fehlt. "Hat sie wohl weggetauscht", bemerkt ein Beamter süffisant zu Caffier. Bald wird aber klar, dass Tochter Medina sich auf Klassenfahrt im Harz befindet. Ein Fauxpas der Behörden: Trotz der minutiös geplanten Familienabschiebung werden die A.s nun auseinandergerissen, denn die Abschiebung soll unter keinen Umständen verschoben werden.

"Deportation Class" ist ein Filmdokument deutscher Abschiebepraxis mit merkwürdigem Beigeschmack: Dass ein amtierender Innenminister vor einem gerade unsanft geweckten Asylbewerber in Unterwäsche steht, ist so unappetitlich wie skurril.

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"Deportation Class": "Erzieherische Maßnahmen"

Foto: Pier 53

Wie kam es dazu, dass ein Filmteam des NDR die Aktion begleiten konnte? Die Regisseure des Films, Carsten Rau und Hauke Wendler, spekulieren darüber bis heute. Die Landtagswahl könnte ein Grund gewesen sein. Wollte sich Caffier angesichts der Flüchtlingskrise und dem Erstarken der AfD zum starken Mann stilisieren, der bei Abschiebungen hart durchgreift?

Caffier spricht im Film immer wieder davon, dass es wichtig sei, geltendes Recht umzusetzen. So oder so: Der vermeintliche Wahlkampfcoup misslingt - und Rau und Wendler gewinnen für "45 Minuten - Protokoll einer Abschiebung" den Grimme Preis 2017. Nicht nur dieser Erfolg, sondern auch die bevorstehende Bundestagswahl sind ausschlaggebend dafür, dass die ursprüngliche Dokumentation nun in verlängerter Form als "Deportation Class" ins Kino kommt.

Komplizenschaft mit den Behörden?

Der Film führt minutiös die verschiedenen Fäden der Sammelabschiebung zusammen und wirkt stark durch seinen stringenten reportageartigen Gestus. Ohne dass ein zusätzlicher Kommentar nötig wäre, erschließt sich die Fragwürdigkeit des gesamten Prozesses durch die Bildsprache. Der Zuschauer wird Zeuge einer sorgsam getakteten Ereigniskette, von Kameras festgehalten. Da mit Zustimmung der Behörden gefilmt wurde, entsteht ein einmalig naher Blick auf die Abläufe einer Abschiebung.

Stellt sich nur die Frage, ob das Filmteam hier Gefahr läuft, zum Komplizen einer staatlichen Inszenierung zu werden? Auf Nachfrage erklärt Regisseur Wendler dazu, dass es zwar Vorbehalte gab, die Chance aber zu einmalig erschien, die Abschiebung in Begleitung von Caffier filmen zu dürfen. Was dabei entstanden ist, darf nun als eine Art audiovisuelles factbook zur Praxis der Abschiebung verstanden werden.

In kurzen Momenten bricht der direkte, reportagehafte Stil allerdings auf: Zurück im Herkunftsland, schauen die Abgeschobenen in langen Schwarz-Weiß-Einstellungen unvermittelt in die Kamera. Hier übersteigert sich "Deportation Class" etwas, denn es bleibt unklar, welches Gefühl entstehen soll. Empathie oder gar Tragik? Dafür ist "Deportation Class" zu sehr seinem journalistisch-investigativen Anspruch verhaftet.

Sie machen ja nur ihren Job

Fragen stellen sich auch ohne diese Überhöhung, eher beiläufig und im Kopf des Zuschauers: Zum Beispiel, wenn das kleine Grüppchen der Abgeschobenen in einem gigantischem Reisebus menschenleere, weite Landschaften durchquert und man sich wundert, ob denn nicht doch irgendwo Platz wäre für diese Menschen? Gerade in Mecklenburg-Vorpommern, einem strukturschwachen Bundesland, das mit Abwanderung und Überalterung zu kämpfen hat.

Die Abschiebepraxis geriert sich mit der Zeit immer mehr als bürokratischer Wahn und Ausdruck einer weitreichenden Verantwortungsdiffusion: Alle Beteiligten verstecken sich stets hinter der Aussage, ja nur ihren Job zu machen und nur geltendes Recht umzusetzen - eine kollektive Immunisierung gegen Kritik. Das löst in Anbetracht der deutschen Geschichte unweigerlich schmerzhafte Assoziationen aus. "Deportation Class" triggert noch viel mehr, als der Film zeigt.


"Deportation Class"
D 2016
Buch und Regie: Carsten Rau, Hauke Wendler
Produktion: PIER 53 Filmproduktion in Koproduktion mit dem Norddeutschen Rundfunk
Länge: 85 Minuten
Start: 1. Juni 2017


Gezim fragt Minister Caffier kurz vor der Abfahrt, wie es nun mit ihm weitergehen soll? Wer ihm garantieren könne, dass ihm zu Hause nichts passiert? Darauf ist das "geltende Recht" nicht vorbereitet. Caffier wiegelt ab, nuschelt etwas Unverständliches. Wenig später bejaht Caffier, dass Abschiebungen auch "erzieherische Maßnahmen" beinhalteten. Ironie der Geschichte: Gezim entgegnet, dass es ja ausgerechnet die deutsche "Disziplin" und die "Regeln" gewesen seien, die ihn angezogen und letztlich zur Auswanderung bewegt hätten.

Dass genau diese Regeln sich nun in aller Härte gegen ihn wenden, versteht Gezim nicht. Er kommt aus Albanien, einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat. Die südosteuropäische Republik wurde unlängst per Gesetz dazu deklariert. Das erleichtert Abschiebungen, weil Asylgründe nicht mehr individuell geprüft werden müssen. Die Beweispflicht liegt nun beim Bewerber. Der Familie von Elidor und Angjela, den anderen beiden Protagonisten des Films, wurde in Albanien Blutrache angedroht. Handfeste Beweise dafür gibt es aber nicht. Also wird keine Rücksicht mehr genommen, die Abschiebung ist schnell und unkompliziert besiegelt.

Im Video: Der Trailer zu "Deportation Class"

Dieses aktuell sehr verbreitete, weil unbürokratische Prozedere arbeitet "Deportation Class" im Gespräch mit Anwälten, Lehrern auf und setzt damit einen wichtigen Akzent, der für den ganzen Film gilt: inhaltliche Emphase statt bloßer Empörung.

Denn auch diese ist im Themengebiet Flucht und Asyl weit verbreitet. Trotzdem läuft es kalt den Rücken herunter, beispielsweise wenn ein Polizist am Flughafen emotionslos die "Anlieferung der Rückzuführenden" ankündigt. Als würde unnützes Menschenmaterial einfach aussortiert und entfernt. Eben dieser kalten Logik, so zeigt "Deportation Class", leistet der Staat mit seinen Asylgesetzen direkte Komplizenschaft.