Zum Inhalt springen

Regisseur Bertrand Bonello "Auf einmal ist da diese Wut"

Bertrand Bonello gilt als einer der radikalsten Regisseure des französischen Kinos. In seinem neuen Film "Nocturama" gehen Terrorismus und Konsumdenken eine verhängnisvolle Liaison ein.
Regisseur Bertrand Bonello: "Auf einmal ist da diese Wut"

Regisseur Bertrand Bonello: "Auf einmal ist da diese Wut"

Foto: JOEL SAGET/ AFP

Das ist selbst an der Croisette selten: Bertrand Bonello wurde mit seinem Film "Nocturama" letztes Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes kurz vor der Eröffnung höchstoffiziell ausgeladen. "Zu politisch" sei der Film, so die Verlautbarung. Und das auf einem Festival, das sich sonst damit schmückt, gerade provokanten Filmwerken den Hof zu machen? Eine Absage lässt sich da fast schon als Ehrung verstehen. Bleibt trotzdem die Frage, wer dieser Regisseur ist, der mit seinem Film - und nicht nur mit diesem - sogar die versammelte Kinoaristokratie herauszufordern vermag?

Faszination für die Klassik

Grund genug, einem der radikalsten Stilisten des heutigen französischen Kinos im persönlichen Gespräch näher zu kommen: "Es gibt ganz sicher eine Utopie der Revolution, des Aufstands. Davon werden junge Menschen angezogen, da sie sich noch in romantischer Sicht der Welt verbunden fühlen. In diesem Sinne gibt es eine Poesie des Terrorismus." "Nocturama" ist eine ungewöhnliche Etüde terroristischer Motivation und daraus erklärt sich seine Radikalität: Im Film begeht eine Gruppe von Jugendlichen eine Serie von Terroranschlägen in Paris und wird anschließend in einem nächtlichem Kaufhaus von der Polizei eingekesselt. Mit "Nocturama" startet erstmalig einer von Bonellos Filmen in größerem Stil in den deutschen Kinos; bislang ist der Regisseur hierzulande ein unbeschriebenes Blatt.

In Frankreich hingegen genießt Bonello Renommee: Im Centre Pompidou hat er bereits eine Austellung kuratiert, Bonello ist klassisch ausgebildeter Musiker, hat mehrere Alben veröffentlicht und komponiert den Soundtrack seiner Filme meist selbst. Kurzfilme über die Fotografin Cindy Sherman und die Sängerin Ingrid Caven sind Zeugnisse eines breiten Kunstinteresses. Für Bonello ist es die Relation, der transversale Gedanke, der die genuine Leistung des Künstlers ausmacht: "Heute ist alles Information. Es gibt kein Denken mehr, keine Übersetzung dieser Information in etwas Größeres, keine Macht der Abstraktion". Nicht nur musikalisch begleitet Bonello eine Faszination für die Klassik, er ist ein Freund des l'art pour l'art, der Verbindungen der Kunst im Leben und des Lebens als Kunst.

Urbane Bedeutungskämpfe

Einen Namen gemacht hat sich der gebürtige Pariser zunächst mit schonungslosem und formal anspruchsvollem Kino in den Grauzonen der Großstadt: Die Nouvelle Vague-Ikone Jean-Pierre Léaud verkörpert in "Le Pornographe" (2001) einen Sexfilmregisseur, der aus Geldnot wieder anfängt Pornos zu drehen und gleichzeitig die resignierte Bilanz seines Lebens zieht. Dafür gewann Bonello den Preis der internationalen Filmkritik in Cannes. In "Tiresia" (2003) wird die Geschichte einer gleichnamigen blinden Transfrau erzählt, die in die Gefangenschaft eines sadistischen Künstlers gerät und durch die fehlenden Hormonpräparate langsam wieder zum Mann wird. Expliziter Sex und rohe Gewalt machen Bonellos Filme zu einer schmerzhaften wie läuternden Erfahrung. "Ein Film zeigt Dinge, er erklärt sie nicht", sagt Bonello.

Bonello erforscht in seinem Oeuvre so etwas wie die Rückseite der Zivilisation, das Blinde, Taube, Stumme, die sich ständig wandelnde Natur und das eigentlich domestiziert Geglaubte, das plötzlich und hinterrücks finster aufblitzt. Im meisterhaften "De la guerre" (2008) lernt ein von urbanen Bedeutungskämpfen ausgebrannter Filmregisseur namens Bertrand Mitglieder einer geheimen Gruppierung kennen, die auf einem abgelegenen Landsitz ihre Version eines guten Lebens verwirklichen, scheinbar befreit von jeglichem zivilisatorischen Schmutz. Eine Welt, zu schön, um wahr zu sein: Bertrand (gespielt von Mathieu Amalric) flieht aus Paris, verglüht in der Dunkelheit des bukolischen Anwesens und findet statt spiritueller Erfüllung einen faschistoiden Mikrokosmos.

Ein Kino zwischen Kampfgeist und Lebenskunst

Dieses Faible für abgezirkelte Räume und utopische Gegenwelten treibt Bonello in "L'Apollonide" (2011) auf die Spitze. Hier laufen die Fäden seines Werks erstmalig zusammen: Der Film zeigt die Welt eines maison close, eines gefängnisartigen Pariser Luxusbordells Ende des 19. Jahrhunderts. Das Haus ist ein exklusiver Sehnsuchtsort der Bohème, die Prostituierten bleiben für die Dauer ihrer Anstellung willentlich eingesperrt. Im Mittelpunkt steht das Leben der Frauen - und ihr Leiden, ihre Ausweglosigkeit und gegenseitige Solidarität, ja Liebe. Mit "L'Apollonide" gelingt Bonello ein einmaliger, zutiefst ehrlicher und sowohl von Berührungsangst als auch von Voyeurismus befreiter Blick auf die Prostitution.

Immer durchzieht Bonellos Filme ein Glaube an das bessere, erfülltere Anderswo, die Suspension des Ich, den Neuanfang. Daran zu glauben, ist das bitter Schöne, das Bonello in seinen Bildern behauptet und verteidigt. Sein Kino oszilliert stets zwischen Kampfgeist und Lebenskunst.

Fotostrecke

"Nocturama" von Bertrand Bonello: Der radikale Stilist

Foto: JOEL SAGET/ AFP

Mit seinem bislang größten Erfolg "Saint Laurent" (2014) entdeckt Bonello im Leben des Modeschöpfers Yves Saint-Laurent die lebenslange Spannung zwischen der frustrierend zeitlosen Banalität des Alltags und der Sehnsucht nach etwas Größerem - dem autobiographischen Gestus des Lebens als Groß- und Einzigartigkeit, der das künstlerische Tun durchwirkt. Die Lebensgeschichte als scheinbar willentlich verwirklichte Utopie insgesamt. Dieses Spiel von wohlfeiler Zufriedenheit mit sich und plötzlichem Ekel vor dem eigenen Tun, das sich im Herzen des verselbstzweckten Strebens nach Kreativität und Eingebung eingenistet hat, präsentiert Bonello als zeitgenössische conditio humana.

Radikalisierung des Alltags

Am Ende steht "Nocturama". Kein Zweifel, der Film ist ein Wagnis: In nichts ist der Film so gut, wie darin, jegliche Erwartungshaltung auf den Kopf zu stellen. Das explosive Sujet verpackt Bonello zu einer absoluten Antithese kollektiver Phantasmen von Angst und Bedrohung. Die Täter sind eine Gruppe von Jugendlichen, die mit keiner Ideologie beschreibbar ist: Hipster, Banlieue-Kids und Sprösslinge der Elite werden hier zu einem seltsam leeren Amalgam, das ein unbeschreibbares Unwohlsein auslöst. Worum es Bonello geht, ist eine Radikalisierung des Alltags: "Es ist verlockend, den Film als Kommentar zum Terrorismus zu lesen, aber er ist das genaue Gegenteil. Ich wollte nichts erklären oder rationalisieren. Oder sagen, dass dies oder jenes der Grund ist. Die Wahrheit ist eben viel verrückter. Auf einmal ist da diese Wut, dieses Gefühl der Jugendlichen: 'Wir ziehen das jetzt durch!'. In diesem Moment sind sie schon verloren."

Bertrand Bonello

Bertrand Bonello

Foto: ELI GOROSTEGI/ AFP

Bonello beschreibt damit eine Todessehnsucht im Herzen der durchkommerzialisierten Gesellschaft, die an den Jugendlichen sichtbar wird. Einer der Attentäter hat ein Meeting beim Finanzminister, dann lässt er en passant die Bombe hinter einen Vorhang fallen. Was skurril anmutet, ist in seiner Selbstverständlichkeit verblüffend. Die Jugendlichen durchqueren die Stadt, sie reden nicht, erklären nicht, zeigen keine Emotionen. Dann gehen die Bomben in die Luft. "Filme mit eindeutiger Botschaft finde ich beängstigend", sagt Bonello und auch damit verteidigt er ein Kunstverständnis, das im nervösen Frankreich selten geworden ist: "Wirklich politisches Kino hat es heute schwer, es ist nicht selbstgefällig genug. Es muss Dinge in Verbindung setzen und damit etwas provozieren, etwas auslösen." Ein Film, der keine Fragen mehr stellt, sondern nur Antworten gibt, das wäre für Bonello eine reine Medikation gesellschaftlicher Probleme. Es passt dazu, dass Bonello Jean-Luc Godard und seine so didaktische wie offene Filmsprache als bedeutsamen Einfluss zitiert.

Anti-Product-Placement

"Nocturamas" leise Provokation besteht somit darin, dass Bonello sein brisantes Thema mit einer unvergleichlichen Kühle und messerscharfen Bedächtigkeit inszeniert. Gerade seine Oberflächigkeit gibt dem Film Tiefe. "Ein politischer Film muss nicht unbedingt Partei ergreifen", so Bonello. Die fehlende Information macht den Film zu sozialem Sprengstoff. "Das musste doch passieren", kommentiert eine junge Frau ganz und gar beiläufig. Terrorismus ist ein Tatsachenbestand - diesen Akzent setzt Bonello ganz bewusst: "Es gab in Frankreich eine Spannung, in irgendeinem Moment musste sie entweichen und explodieren." Idee und Produktion von "Nocturama" wurden entwickelt, lange bevor Frankreich tatsächlich zur Zielscheibe des Terrorismus wurde.

Szene aus "Nocturama"

Szene aus "Nocturama"

Foto: Real Fiction

Nach den Anschlägen flüchten die Jugendlichen in "Nocturama" in ein riesiges Luxuskaufhaus. Dort treten auf einmal emotionale Regungen hervor: Es wird Musik gehört, geredet, gegessen, geliebt. In der Welt des Kaufhauses erwachen die Jugendlichen zum Leben, spüren nur im gewohnten Konsum sich selbst und die anderen. "Es ist wie eine Neuerschaffung der Welt im Innern unserer Welt", sagt Bonello. Die allgegenwärtigen Kulissen der Werbung werden zu einem Dekor der Tradition, fast schon Anti-Product-Placement betreibt Bonello hier - ein ungemein elegantes Stilmittel. Die Extremsituation wird letztlich zum Hilferuf: "Wir müssen diesen jungen Menschen helfen. Seit 20 Jahren sagt man ihnen, sie hätten kein Leben, keine Zukunft. Aber so lässt sich die Botschaft nicht verpacken. Ich habe versucht, das mit meinen Mitteln zu übersetzen, und das ist die Fiktion."

Im Video: Der offizielle Filmtrailer zu "Nocturama"

Es ist dieses unbestimmte und doch geteilte Gefühl eines permanenten fin de siècle, des letzten feierlichen Abends vor dem Heraufziehen des Sturms, das Bonellos Werk insgesamt auszeichnet. Wird das hier alles wirklich so weitergehen? Auf die Unsicherheit in dieser Frage antwortet Bonello mit produktiver Dekadenz. Als Form von Wahrhaftigkeit: Die Dekadenz wird zu einem Lebensgefühl, einem wahrnehmbaren Brustton, fast heiter, der einen unbedingten Kontrapunkt zu jeglicher Form des Nihilismus setzt.