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Abgehört Die wichtigste Musik der Woche

Lässiger kam deutscher Pop schon lange nicht mehr auf den Punkt als beim Ein-Mann-plus-Damenchor-Projekt Erfolg, meint Gastkritikerin Hannah Pilarczyk. Außerdem: Lonelady! Tobias Jesso Jr.! Und Sufjan Stevens' Trauer-Meisterwerk "Carrie & Lowell" im Komplettstream.

Erfolg - "Erfolg"
(Staatsakt/Rough Trade, ab 27. März)

Schlenker müssen erlaubt sein, gerade bei dieser Platte. Deshalb: Auf Vimeo ist seit vergangener Woche ein Video zu sehen , das die erste und die letzte Einstellung von berühmten Filmen nebeneinander zeigt. Manche dieser Gegenüberstellungen überraschen, weil sich Anfang und Ende als nahezu identisch erweisen ("Gone Girl"). Andere Paarungen verblüffen, weil sich an erstem und letztem Bild die gesamte Entwicklung des Protagonisten ablesen lässt ("Gravity"). Bei "Erfolg", dem Debütalbum von Johannes von Weizsäcker, lässt sich diese Methode ebenfalls sehr gut anwenden. Mit einer Männerstimme, die lakonisch sagt "Ich nenn' mich Erfolg/ Dann hab' ich immer/ Erfolg in meinem Leben" fängt die Platte an, mit einem glockenklar singenden Frauenchor, der ein ums andere Mal trillert "Ich halt's nicht mehr aus", geht sie zu Ende. Damit ist die erzählerische Kurve, die dieses wunderbare Album mit Aplomb nimmt, schon ziemlich gut beschrieben.

Weil seine Bandkollegen von The Chap das Tourneeleben "zugunsten vernünftigerer, aber langweiliger Dinge", so von Weizsäcker, vorübergehend aufgaben, begann der Sänger und Gitarrist kurzerhand sein Soloprojekt Erfolg. Trotz selbsterklärtem Produktivitätsüberschuss ist der Titel aber rein anti-programmatisch zu verstehen: Auf "Erfolg" stellt von Weizsäcker ein Bestiarium der aufdringlichen Männerfiguren zusammen, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Da ist am Anfang der, haha, personifizierte Erfolg, der über die Krisen der Welt hinweg seine Aufputsch-Mantren abspult ("Alle reden von Nord-Süd-Gefälle/Ich gefalle mir mit Erfolg"). Er wird abgelöst vom Klaviermann, der als erstes in "Seelenfestival" auftritt, um sich dann im nach ihm benannten Song als wehleidige Tresenbekanntschaft zu erkennen zu geben. Den "Brillenmann" kennt man - leider - von eigenen Ausflügen ins hauptstädtische Kulturleben, wo er und sein Brillengestell immer schon da sind, von Vernissage bis Paloma-Bar. Richtig bemitleidenswert wird es dann beim "Mausmann", einem Investment-Fonds-Manager, dem eine Kochcasting-Show kurz den Ausbruch aus seinem Banker-Dasein verheißt, um ihn dann umso tiefer ins Nichts stürzen zu lassen.

Passend dazu sind von Weizsäckers Songs musikalisch hübsch semi-ambitioniert. Mal gibt's ein paar behutsam gezupfte Indie-Gitarren, mal einen sanften House-Groove. Mitunter nehmen die Lieder auch richtig an Fahrt auf, aber nie so sehr, als dass die lässige Grundstimmung des Albums in Gefahr geriete. Von Weizsäckers Background-Sängerinnen, dem selbsternannten "Besten Damenchor der Welt", kommt zunächst eine dekorative Funktion zu, da ihnen bei den ersten Liedern wenig mehr bleibt, als den Refrain vorzutragen. Doch von Song zu Song nimmt der Damenchor immer beherzter das Zepter aus der müden Männerhand, bis er im letzten Song "Negativität" buchstäblich den Abgesang auf verblasene Männlichkeiten anstimmt: "Ich halt's nicht mehr aus". So unangestrengt auf den Punkt gekommen ist deutscher Pop schon lang nicht mehr. (8.0) Hannah Pilarczyk

Sufjan Stevens - "Carrie & Lovell"
(Asthmatic Kitty/Cargo, ab 27. März)

Everybody knows/ You only live a day/ But it's brilliant anyway", das ist nicht etwa eine Zeile aus einem neuen Sufjan-Stevens-Song. Kenner wissen längst: Es ist ein Teil des Refrains von Elliott Smiths "Independence Day", einem der besten Stücke des früh verstorbenen Songwriters. Warum damit diesen Text eröffnen? Weil es eine kuriose Parallele zu "Fourth Of July" gibt, dem Herzstück auf Sufjan Stevens' neuem Album "Carrie & Lowell": Statt um einen "future butterfly" geht es hier zwar um ein Glühwürmchen (Firefly), aber gemeint ist dieselbe Insekten-Metaphorik, die das Eintagsfliegenhafte des menschlichen Daseins spiegeln soll. "We're all gonna die" wiederholt Stevens immer wieder, aber nicht verzweifelt, sondern mit der Ruhe und Gelassenheit des Transzendierenden: "Make the most of your life", veranstalte ein Feuerwerk wie am 4. Juli, dem Independence Day, denn das Leben verlischt so schnell wie ein Funkenregen.

Das sind ungewohnt triste Botschaften von Stevens, einem der Erneuerer des Folk-Genres, der jedoch stets auch zum großen, irren Experiment neigte: Neben "Seven Swans", einem Album mit behutsam modernisierten christlichen Gesängen, dem "Carrie & Lowell" vielleicht am nächsten kommt, wollte Stevens einst jedem US-Staat ein Album widmen (Illinois und Michigan hat er geschafft), verhalf dem Brooklyn-Queens-Expressway in New York zu einen Soundtrack ("The BQE") und suchte nach Elektropop-Motiven für den chinesischen Tierkreis ("Enjoy Your Rabbit"). Mit der EP "All Delighted People" und dem folgenden Album "The Age Of Adz" (2010) schien Stevens seine Balance zwischen Bombast und Behutsamkeit gefunden zu haben, doch der Tod seiner Mutter im Jahre 2012 brachte alles wieder durcheinander.

Carrie und Lowell, das sind Stevens' Mutter und sein Stiefvater Lowell Brams, der heute das Label Asthmatic Kitty leitet, auf dem Stevens seine Platten veröffentlicht. Der kleine Sufjan wuchs jedoch in Michigan bei seinem Vater und seiner Stiefmutter auf, denn Carrie litt an Schizophrenie und Depressionen, was sie in den Alkoholismus trieb. Die Erinnerungen, die Stevens an seine Mutter hat, sind begrenzt, sie erschöpfen sich in einigen Ferienaufenthalten Anfang der Achtziger, als der Knirps Carrie und Lowell in Oregon besuchte, und ihrer Sterbephase.

Zu sehr reduzierten Gitarren- und elektronischen Pianoklängen reflektiert Stevens nun fast flüsternd sein Verhältnis zur Mutter, zu ihrer Abwesenheit, seiner Kindheit, zu Verlust und Tod. Womit wir wieder bei Elliott Smith angelangt wären, denn eine intimere, in träumerischer Innigkeit versunkene Singer/Songwriter-Platte, die auf ihren fingergepickten Gitarrenakkorden so meisterlich zwischen Licht und Dunkel hin- und hertanzt, hat es seit Smiths "XO" nicht mehr gegeben. "Carrie & Lowell", sagte Stevens dem US-Magazin "Pitchfork", sei nicht irgendein neues Kunstprojekt, diesmal ginge es wirklich um sein Leben. It's brillant anyway. (8.5) Andreas Borcholte

Tobias Jesso Jr. - "Goon"
(Matador/Beggars/Indigo, seit 13. März)

Es ist zum Verrücktwerden: Einfach alles auf diesem Album klingt, als hätte man es schon einmal gehört. "Can't Stop Thinking About You", gleich das erste Stück, will ständig in den Refrain von Elton Johns "Rocket Man" hinübergleiten, kriegt dann aber immer gerade noch die Kurve. Oder "Can We Still Be Friends?": Da sieht man vor dem geistigen Auge Ted Danson hinterm Tresen Gläser putzen, so sehr erinnert's an den "Cheers"-Titelsong "Where Everybody Knows Your Name" von Gary Portnoy. Und irgendwo in jeder der zwölf Eigenkompositionen von Tobias Jesso Jr. lugt auch Paul McCartney hinter einem Vers oder einer Harmonie hervor. Ein Stück heißt sogar "Without You", bekanntlich einer der größten Hits von Harry Nilsson, einem jener am Piano sitzenden Großmeister des Songwritings, mit denen Jesso Jr. zurzeit jubelnd verglichen wird.

"Ach, Jesso-Schmesso!", möchte man da, als Hommage an Nilsson, ausrufen. Der aus Vancouver stammende Sänger, das durfte man Ende Januar auch bei einem charmanten kleinen Konzert in der Lounge des Berliner Hipster-Hotels Michelberger erleben, ist ein lustiger Typ und wirkt so kurios wie grundsympathisch, wenn er versucht, seine auf fast zwei Meter ragende Schlaksigkeit hinter ein Piano zu klemmen, um dann den neckischen Wuschelkopf in gefühlvolle Balladen zu neigen.

Ganz eindeutig besitzt Jesso Jr., der sich eine zeitlang in L.A. als Songlieferant für Stars versuchte und darüber nun sein Album schrieb, ein Händchen für diese klassischen Pianomelodien, diese Songs eben, von denen man glaubt, sie zu kennen. Großes Talent! Und über die richtige, jungenhaft-zartschmelzende Stimme, die man dafür braucht, verfügt er ebenso wie kompetente Freunde (u.a. Hit-Produzent Ariel Rechtshaid, Ex-Girls-Sänger J.R. White und Black Key Pat Carney), die ihm den passenden Siebziger-Retro-Sound zuschnitten.

Aber am Ende fehlt dann doch ein Hit oder ein griffiger Song, an dem man "Goon" zu fassen bekommen könnte. Ein "Rocket Man" halt, oder ein "Everybody's Talkin'", ein "Say Goodbye to Hollywood" oder ein "Brick", denn natürlich kommt man beim Thema Indie-Klavierballaden nicht an Ben Folds vorbei, zumal sich Jesso Jr. in seinen gewitzten Herzschmerz-Texten einer ähnlichen Lakonie bedient. Völlig legitim, sich von Vergangenem und Klassischem inspirieren zu lassen, schade nur, wenn die Originale am Ende mehr Punch haben. Noch. (7.3) Andreas Borcholte

Lonelady - "Hinterland"
(Warp/Rough Trade, seit 20. März)

Mit Julie Campbell kann man sich, ihrer unbehausten Musik zum Trotz, wahrscheinlich stundenlang sehr gut unterhalten. Allerdings sollte man sich mit Analog-Gerätschaften und antiquiertem Aufnahme-Equipment auskennen, denn Campbell, ungewöhnlich für eine Frau, ist ein ziemlicher Nerd, was das betrifft. Auf ihrem zweiten Album nahm sie Songs mit dem legendären Tascam-Acht-Spur-Recorder auf, durfte sich in Michigan, wo ein Teil des Albums entstand, an einem LM-1-Drumcomputer und einem ARP2600-Synthesizer versuchen. Das analoge Mischpult, das sie benutzen durfte, diente schon Funkster Sly Stone, "wer weiß, was für magischer Staub, was für Gen-Partikel daran haften geblieben sind?", fragte sich Campbell aufgeregt in einem Interview.

An ihrer Musik haftet von jeher die klirrende Frustration und kühle Rebellion gegen betonierte Verhältnisse, die Manchester-Bands der ersten Stunde auszeichnete: Joy Division, Wire, A Certain Ratio. Mit einem modernisierten Derivat dieses Signatur-Sounds Heimatstadt begeisterte Campbell 2010 mit ihrem Debüt "Nerve Up" einen leider viel zu kleinen Zuhörerkreis. Ob sich das mit "Hinterland" ändert, ist fraglich, denn ihre Musik ist vielschichtig und faszinierend, wie sie zwischen Kältestarre und Groove changiert, aber vielleicht ist das alles am Ende doch noch zu brainy für den Massengeschmack.

Dabei hat sich Campbell auf "Hinterland" redlich Mühe gegeben, ihre der verwesenden Industrie-Architektur Detroits und Manchesters entgegengeworfene Einsamkeitsmusik warm und umarmend zu gestalten - ohne dabei auf kompositorische Cleverness zu verzichten. Vor allem der Titelsong besticht durch einen meditativen, nach vorne drückenden Funk-Groove, der an Donna Summers "State Of Indepence" erinnert, mit stichelnden Post-Punk-Gitarren verfremdet.

Campbells Ansatz ist filmisch, daher sind die neun Stücke allesamt sehr lang: Man soll sich auf imaginäre Autobahnen träumen, eine wie die M15, die durch die ödesten Betonbezirke Manchesters führt. Dabei gelingen ihr großartige Tracks: "Into The Cave" mit seinen unheimlichen Daniel-Lanois-Geistersounds, "Bunkerpop" mit seinen gegenläufigen, an The Thes "Infected" erinnernden Rhythmen, "Groove It Out", eine Mischung aus A Certain Ratios "Bootsy" und jenen frühen, schwitzigen Prince-Platten, als Wendy & Lisa noch ein Mitspracherecht hatten. Auch Kate Bush und Anne Clark ("Silvering") drängen sich zum Vergleich in diesem Genre immer auf, doch letztlich definiert Julie Campbell mit "Hinterland" ihren eigenen, letztlich gar nicht so retrospektiv klingenden Stil weiter aus. Tanz' den Brutalismus! (7.8) Andreas Borcholte

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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