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Abgehört Die wichtigste Musik der Woche

Intimität für die Massen: Caribou probiert auf "Our Love" die seltene Allianz aus schüchternem Elektro und Ibiza-Rave. Hören Sie das Album hier komplett vorab! Außerdem: Thom Yorkes BitTorrent-Solo! Perfume Genius! Lewis Baloue!
Von Andreas Borcholte und Jan Wigger

Caribou - "Our Love"
(City Slang/Universal, ab 3. Oktober)

Was für ein Wochenende! Vergessen wir mal kurz das großartige, denkwürdige und einzige Deutschlandkonzert der US-Rapperin Azealia Banks im Berliner Huxleys, das Promi-Boxen oder PeterLichts sehr sympathischen Tour-Auftakt in der Volksbühne. Das wichtigste Ereignis kam erst am Sonntagabend, und zwar vor dem "Tatort" (Wer guckt den schon?): Deutschlands borstigste Schwiegertochter Beate hat auf Bali endlich ihre große Liebe gefunden. Zeitschriftenausträger Thomas setzte nicht nur mit seinem Lieblingslook aus Blümchenshorts und Fahrradtrikot modische Maßstäbe, er bewies mit tollkühner Kuss-Aktion im Elefantensattel, dass das Unmögliche möglich ist und Liebe wirklich blind macht. Beate und Thomas beim Turteln am Strand, das war wie eines dieser Amateurvideos in der Upps-Pannenshow, in denen sich ungeschickte Leute beim Heimwerken fiese Verletzungen zuziehen: Man mag eigentlich nicht hinsehen, aber man kann dann doch nicht anders. Schaurig schön. Perfekt wäre der Sonntagabend gewesen, hätte die musikalisch nicht unbewanderte Redaktion von "Schwiegertochter gesucht" Beates Liebestraum mit Caribous neuer Single "Can't Do Without You" unterlegt, schon jetzt die Konsens-Feelgood-Hymne des Spätsommers.

Da mag der Großstadt-Bohemien noch so sehr die Nase emporrümpfen: Aus der Avantgarde und Nischenkultur hat sich der aus Kanada stammende Musiker Dan Snaith gerade mal bewusst verabschiedet. Sein Anliegen bei der Arbeit an "Our Love" sei es gewesen, "mind-numbingly simple music" zu schaffen; und "Can't Do Without You", eine durchaus slicke Antwort auf Daft Punks Disco-Reanimation, die eigentlich nur aus der Wiederholung der Titelzeile auf einem schunkelnden Housebeat besteht, ist genau das: Ein Song, so simpel auf primäre Emotionen und Körperfunktionen zielend, dass er wie gemacht für RTL scheint. Sie denken jetzt, ich meine das ironisch und hasse das Lied. Aber da irren Sie.

Der Rest des Albums ist, mit Ausnahme vielleicht von "All I Ever Need", etwas komplexer geraten. Gering die Chance, dass ein veritabler, wenn auch in die Neunziger regredierender Clubtrack wie "Our Love" im Radio gespielt würde, dasselbe gilt, leider, für das irritierend vertaumelte "Second Chance", für das die ebenfalls kanadische Jessy Lanza ihre süßliche Stimme hergab. Auch "Silver", das als zweites Stück nach "Can't Do Without You" sehr perfide die Stimmung drosselt, verfügt zwar über einen gerade marschierenden Beat und simple Melodieführung, dennoch spielt sich in den zahlreichen Klangschichtungen des Songs einiges ab, was erst beim wiederholten Hören zum Vorschein kommt.

Da ist der Sample-Mechaniker Snaith dann wieder ganz in seinem Element. Seit seinem letzten Album "Swim", das überraschend zum Hit wurde, ist in seinem Leben viel passiert: Er wurde Vater einer Tochter, gleichzeitig lernte der bis dato gerne im Schlafzimmer vor sich hin komponierende Musiker auf der Stadion-Tournee mit Radiohead, dass Leute sich zu seiner verschachtelten Musik bewegen wollen. Mutig belebte er für einige Aftershow-Abende seine DJ-Tätigkeit neu und bewies dabei weitaus besseren Flow als Auflege-Kollege Thom Yorke. Es folgte das Dance-Album "Jialong", dass Snaith unter seinem DJ-Namen Daphni veröffentlichte - und nun schließlich "Our Love", sozusagen die Synthese aus klugem, intimem Elektrogefrickel und den großen, naiven Gesten eines Ibiza-Raves. In den weiten Räumen, die diese unwahrscheinliche, unheilige, letztlich aber geniale Allianz erlaubt, gibt es auch noch Platz für schöne Afrobeat-Exkursionen wie "Mars" und verträumt-verstrahlte Prog-Kraut-House-Trips wie "Your Love Will Set You Free", einer von vier Songs, die Snaith in enger Zusammenarbeit mit Owen Pallett aufnahm. Man wird kaum ohne dieses Album auskommen in diesem Herbst. (8.0) Andreas Borcholte

Thom Yorke - "Tomorrow's Modern Boxes"
(via BitTorrent, seit 26. September)

Der betont analoge Kollege Wigger wollte am Wochenende dann auch gleich wissen, wo man denn dieses neue Album von Thom Yorke herkriegt. Musst Du über BitTorrent runterladen, sagte ich. Bittwas?. Genau. Ich, einer muss ja mit der Zeit gehen, habe da ja weniger Berührungsängste, also zahlte ich brav per PayPal meine sechs Dollar und durfte das sogenannte Bundle über meinen Torrent-Client downloaden. Für uns Konsumenten ist das ein klein bisschen komplizierter als einfach via Apple ein neues U2-Album in die Cloud serviert zu bekommen, für Musiker könnte der neue Bundle-Dienst von BitTorrent allerdings ein interessanteres Vehikel sein, um künftig Musik ohne große eigene Server- und Handling-Kosten zu vertreiben. Wie immer gilt aber bei solchen Guerilla-Aktionen: Wer Beyoncé, Bono oder Thom Yorke heißt, kann das mal machen, wer noch keinen Namen im Musikbusiness und folglich wenig Fans hat, kann's vergessen: Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 2000 Euro ein, sondern begeben sich auf kürzestem Wege zur Plattenfirma.

Achso, Sie wollten wahrscheinlich wissen, wie das Album ist. Könnte man glatt vergessen in dem ganzen Trubel um radikale neue Vertriebsformen. Wie für alle jüngeren Veröffentlichungen des Radiohead-Chefs gilt auch für diese: Minimalismus und Atmosphäre sind wichtiger als Songstruktur. Yorke entdeckte schon vor Jahren seine Liebe zur Clubkultur und versucht sich immer mal wieder selbst als DJ. Wer das schon mal live miterlebt hat, weiß, dass es sich stets mehr lohnt, sich dem Studio-Output des Radiohead-Chefs zu widmen. Vieles auf "Tomorrow's Modern Boxes" knüpft recht nahtlos ans Solo-Album "Eraser" und das elektronische Nebenprojekt Atoms For Peace an. Yorke singt in seiner markant weinerlichen Art allerlei Sinistres und Tristes über gedämpfte, erstickte und in sich verdrehte Sounds, dazu klappert, zumeist sehr weit nach vorne gemischt, ein Minimal-House- oder -Technobeat und sorgt für Antrieb.

Manches trägt den Geist klassischer Radiohead-Songs in sich, darunter "Guess Again!" und das ambiente "Interference" - als hätte man aus "In Rainbows" oder "The King Of Limbs" Opulenz, Noise und, das muss man sagen, manchmal auch Saft und Kraft herausgefiltert. Interessanter sind "The Mother Lode", ein straffer Drum'n'Bass-Track, oder die ebenfalls recht rapide Techno-Fingerübung "There Is No Ice (For My Drink)", die man im Club mit anderen aktuellen muted Sounds mixen könnte, zum Beispiel mit der grandiosen Jamie-xx-Single "All Under One Roof Raving". Hier beweist Yorke tatsächlich, dass er sein Ohr ganz nah am heutigen Club-Geschehen hat. Alles andere, was dann vielleicht weniger tanzbar, aber wahrscheinlich ein bisschen weltbewegender ist, findet sich dann wohl auf dem für nächstes Jahr erwarteten neuen Radiohead-Album. (7.7) Andreas Borcholte

Perfume Genius - "Too Bright"
(Matador/Beggars/Indigo, seit 19. September)

Bisher wusste man nicht so genau, was man mit Perfume Genius anfangen sollte: Der Sänger aus Seattle, der eigentlich Mike Hadreas heißt, veröffentlichte zwei Alben mit zarten, ätherischen, aber auch sehr hermetischen Pianoballaden, irgendwo zwischen der winterlich-weißen Innerlichkeit Bon Ivers und der blutroten Theatralik Rufus Wainwrights. Vielleicht wusste Hadreas bisher auch selbst nicht so genau, was das alles soll.

Mit "Too Bright" reißt er nun recht eindrucksvoll die Türen zu Körperlichkeit und Seele auf: "I wear my body like a rotted peach/ You can have it if you handle the stink", singt er mit bibbernder Psychobilly-Stimme in "My Body". "I am too tired to hold myself carefully", heißt es im nächsten Lied, "Don't Let Them In", einer ungleich zarteren Ballade. Auch wenn die Texte bei aller Extrovertiertheit und deftiger Metpahorik nicht eindeutig sind, ist klar: Hadreas hat zu lange mit sich und seiner Sexualität gehadert; der Frust der langen Jahre in denial, der Selbsthass, die Schutzmechanismen, der Schmerz und die Lügen, alle Dämonen brechen sich nun Bahn und drängen ans grelle Licht, wie ein Diamant, der verschluckt und ausgeschissen, dann wieder verschluckt wird, wie Hadreas es im besten Stück "Grid" lakonisch beschreibt: "At least we know where it's been." Noch immer basieren die meisten Songs auf Piano-Figuren und dürren Elektro- oder Schlagzeugbeats (unter anderem von Portisheads Adrian Utley), aber die Tonalität ist düsterer, viszeraler, aufdringlicher, pulsierender. Strukturen bleiben offen und trügerisch, wie in "Fool", das als blauäugige Soul-Ballade samt Fingerschnippen beginnt - und dann in einen sakralen Ambient-Track kippt, den Hadreas mit heiligem Geheul füllt. Kirchenorgeln gibt es auch in "I'm A Mother", in dem Hadreas nicht mehr singt, sondern nur noch flüstert und stammelt, als hätte wäre ihm gerade Jesus erschien. Als Drag Queen, versteht sich. Vielleicht der verstörendste, faszinierendste musikalische Autoexorzismus eines Künstlers seit "The Downward Spiral". (7.8) Andreas Borcholte

Lewis Baloue - "Romantic Times"
(Light In The Attic Records/Cargo, seit 5. September)

Chatten, chillen, stärken, leben. Die Tage nach der letzten Abgehört-Kolumne waren so friedlich und beschaulich wie immer: Natürlich wurde uns 29 Jahre nach der Bandgründung von Element Of Crime die Frage "Wer iat sven regner?" gestellt. Und natürlich ist Thorsten Legat ("Mein Vater war auf der Hütte, wenn ich wieder fit bin, zeig ich denen, wat malochen heißt!") mit den letzten Jahren noch irrer geworden und stellte beim Promi-Boxen ("Gong rettet nicht vor K.O.") die debilsten, unvergleichlichsten Kurzinterviews seit seinem unrühmlichen Karriereende auf Schalke bereit.

Auch bei Lewis Baloue, der sich auf dem wundervollen, erst im Frühling von unseren Lieblingsarchäologen bei Light In The Attic Records gehobenen Schatz "L'Amour" noch schlicht Lewis nannte, hat die Zeit ew'ge Rast gehalten: Das weiße Phantom, laut Plattenfirma und Hobbyfotografen keinesfalls verstorben, sondern in Kanada geortet, spielt auch auf seiner zweiten (und vermutlich letzten) Platte "Romantic Times" die schwülste, stickigste, schläfrigste Musik der Welt. Sinatras "Strangers In The Night" heisst bei Baloue "We Danced All Night", in "So Be In Love With Me" gleitet ein irres Saxophon durch das nächtliche Café Marignan. Drumcomputer, Synthesizer und Baloues zittriges Wimmern zeigen an, dass hier ein Mensch zerfällt: "Romantic Times" hören ist wie das erste Mal George Michaels "A Different Corner" (oder "You Have Been Loved") hören, wie der Schmutz unter Laura Palmers Fingernagel, wie die toten Gassen portugiesischer Dörfer.

Jack D. Fleischer, der vielleicht größte Lewis-Fan überhaupt, drückt es so aus: "The music is magical, real, and exists because of the dream that many have." Und manchmal ist ein Traum nur ein leerstehendes Haus. (7.2) Jan Wigger

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)