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Abgehört - neue Musik Die Krise als Glücksfall

Die eine lässt sich von ihrer Midlife Crisis inspirieren, die andere von Trump: Leslie Feist und Juliana Hatfield begeistern mit neuen Alben. Außerdem: Thurston Moore auf Psychedelic-Trip und ein Grime-Großmeister.
Sängerin Feist

Sängerin Feist

Foto: SOLUM, STIAN LYSBERG/ AFP

Feist - "Pleasure"
(Polydor/Universal, ab 28. April)

Wie eine Kindheitserinnerung ist sie plötzlich da, die Stimme von Leslie Feist. Unvermittelt, als käme sie aus dem Nichts; vage, weil man nur einige diffuse Gefühle mit ihr verbindet; gleichzeitig überaus intim, weil man sie unbewusst all die Jahre mit sich herumgetragen hat, diese einzigartige Stimme, die so flüchtig und eindringlich zugleich ist und hinter deren Geheimnis man nach der ganzen Zeit noch immer nicht gekommen ist.

Um ein so vertrautes Verhältnis zu ihrer Stimme zu haben, muss man die Karriere von Leslie Feist noch nicht einmal näher verfolgt haben. Eine Zeit lang, um 2007, 2008 herum, waren sie und ihre Songs, das federnde "1234" und das klimpernde "I Feel It All", dank der Verwendung in Filmen, Fernsehserien und Werbeclips überall. Die Omnipräsenz und auch die Warenförmigkeit, die ihre Musik in dieser Zeit annahm, thematisiert Feist auf ihrem fünften Soloalbum nun selbst: Am Ende von "Any Party" wandert die Aufnahme vom Studio auf die Straße, wo gerade ein Auto vorbei fährt. Aus ihm plärrt für wenige Sekunden der Titel- und Eröffnungstrack des Albums "Pleasure", dann ist das Auto schon wieder weggebraust.

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Ist meine Musik mehr als gefälliges Hintergrundgeräusch, ist sie nachhaltiger als das flüchtige Vergnügen, das ich selbst besinge? Das scheint sich die 41-jährige Kanadierin zu fragen, und spätestens an dieser Stelle ist man vollends drin in dem Thema, das ihr neues Album durchwirkt: die große emotionale und berufliche Selbstbefragung, die einen ab 40 mehr erwischt, als dass man sich ihr bewusst stellt - die Midlife-Crisis. Intuitiv könnte man sich für eine Indie-Pop-Künstlerin, deren Songs in der Vergangenheit des Öfteren an Verzagtheit litten, kaum Schlimmeres vorstellen, doch bei "Pleasure" erweist sich die Krise als Glücksfall.

Feist übersetzt auf dem Album persönliche Unsicherheit in klangliche und textliche Offenheit: Plötzlich schraddeln die Gitarren und kratzt die Stimme. Statt sorgsam eingesetzter Glockenspiele und Flöten, bekommen nun der Aufnahmeraum und seine raue Stofflichkeit Platz, der Großteil der Songs wurde live eingespielt. Das bedeutet im Gegenzug jedoch nicht, dass Feist auf vermeintlich ungekünstelte Authentizität und damit billig inszenierte Intimität setzt. Mehrfach bearbeitet sie ihre eigene Stimme, in "Get Not High, Get Not Low" lässt sie sie auf der Silbe "High" zum Beispiel augenzwinkernd in psychedelisch-hallige Höhen entschwinden.

Im selben Song findet sich Feists Dilemma, was sie mit ihrer Lebenserfahrung denn nun anstellen soll, auch textlich am schönsten eingefangen: "I got high/ I got low/ Get not high/ Get not low/ I can't tell or be told where to go". Dieses sanfte Hin und Her, es zieht sich auf wunderbare Weise durch "Pleasure" und stellt eine betörende Spannung her: An einer Stelle ("A Man Is Not His Song") singt Feist wehmütig den Versprechen der Liebe nach, während sie anderswo selbst mit vermeintlicher Verbindlichkeit kokettiert: "Oh you know I'd leave any party for you" ("Any Party"). So wie ihre Liebhaber - und wie sie sich wohl auch selbst -, kann man sich Feist auf "Pleasure" nicht sicher sein. Zumindest für ihre Zuhörerinnen ist das eine reine Freude. (8.4) Hannah Pilarczyk

Thurston Moore - "Rock N Roll Consciousness"
(Caroline/Universal, ab 28. April)

"She is the future" ist die erste Songzeile, die Thurston Moore auf seinem neuen Album singt. Es dauert ein paar Minuten, bis die Lyrics beginnen, und sie stammen nicht aus der Feder des Sonic-Youth-Gründers, sondern von dem Londoner Dichter Radio Radieux, aber sie sind signifikant.

Letzten Sommer, erzählte Moore, 58, dem "Guardian" , sei er mit seiner 22-jährigen Tochter durch die USA gefahren und habe dabei die meiste Zeit das bahnbrechende "A Seat At The Table" von Solange gehört. Moores Erkenntnis: Rockmusik bewegt sich gerade nicht, R&B ist das experimentelle, sich weiterentwickelnde Genre. Und es ist - zumindest zurzeit - weiblich definiert.

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Der bald nicht mehr mittelalte weiße Rocker scheint sich folglich die Frage nach dem Rock'n'Roll-Bewusstsein zu stellen. Moore, der die Rockmusik in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrmals über den Ereignishorizont der Avantgarde und zurück geführt hat, findet seinen Frieden beim Stöbern in Vinyl-Plattenläden, eine gewisse Neigung zur Historisierung sei ihm daher verziehen. "Rock N Roll Consciousness" sucht nicht die Gegenwart oder die Zukunft von Rock'n'Roll, sondern forscht im Noise vergangener Zeiten nach dem Grundrauschen.

Hat er immer schon gemacht, könnte man nun sagen, aber noch nicht lange in dieser Besetzung. Seine aktuelle Band aus Sonic-Youth-Kollege Steve Shelley (Drums), Gitarren-Genie James Sedwards (Nought) und My-Bloody-Valentine-Bassistin Deb Googe hat sich nach ihrem Debüt von 2014 zur eng verzahnten Einheit geformt, die es an den Rändern schon wieder lässig und selbstgewiss ausfransen lassen kann. Mit "Exalted" und "Turn On", beide über zehn Minuten, sind einige der längsten Stücke enthalten, die Moore je komponierte. Auch der Rest (es sind insgesamt nur fünf Tracks), unterschreitet nicht die Sechs-Minuten-Marke. Im Studio wurde erstmals von Adele-Produzent Paul Epworth betreut.

Was nicht heißt, dass ein Pop-Album entstanden ist, im Gegenteil: Das bestimmende Element sind die ins Ewige kaskadierenden Gitarren von Moore und Sedwards, im Hintergrund tribal betrommelt und einlullend grundiert vom Shoegaze-Bass Googes. Moores markante Melodie-Rudimente sind ebenso vorhanden wie krautrockendes Grooven und doomiges Dahintrotten, manchmal wird auch einfach nur ein Krach-Crescendo schön lange ausgekostet ("Exalted").

In "Cusp" klingt die Band, wie man sich U2 vorstellt, als sie noch Feedback hießen und die St. Fintan's High School rockten; "Turn On" karriolt einmal durch die Rockgeschichte von "Gimme Shelter" bis "Gimme Danger" und fordert, psychedelisch-medienkritisch: "Turn on your godhead light" - statt die Glotze. Ein Fest für Freaks. (7.9) Andreas Borcholte

Mr. Mitch - "Devout"
(Planet Mu Records, seit 21. April)

Kein Zweifel, Grime ist der Sound der Stunde. Der kanadische Pop-Rapper Drake kuschelt auf seinem erfolgreichen Playlist-Album "More Life" mit dem Genre, auch auf Kendrick Lamars jüngstem Album "DAMN." sind Grime-Einflüsse zu hören und Kanye West gab schon 2015 mit der halben Londoner Szene auf der Bühne an. Womöglich passt der Stil einfach in unsere Zeit: Grime war stets die vertonte Rebellion der Ohnmächtigen. Basswalzen und Breakbeats als Ausdruck des zugeschnürten Halses - und gleichzeitig Raum zum Atmen.

Dass Grime nun ein derartiges Revival erleben kann, liegt allerdings nicht an den Rap-Alphatieren aus Übersee. Sondern an Leuten wie Miles Mitchell. Seit Jahren stemmt sich Mitchell in London gegen eine restriktive Kulturpolitik, die die für den künstlerischen Untergrund so wichtigen Pirate-Radio-Stationen und Clubs systematisch austrocknet.

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Grime, Anfang der Nullerjahre von britischen Straßenkids auf den Plan und von Leuten wie Wiley und Dizzee Rascal in die Charts gebracht, galt zwischenzeitlich schon wieder als überholt, die Szene als eingeschlafen. Entgegen der Unkenrufe schuf Mitchell mit seiner Partyreihe "Boxed" jedoch eine Art Labor, wo neue Spielarten des Sounds erforscht, Synergien geschaffen und das Genre sich frisch machen konnte.

"Devout", Mitchells zweites Album als Mr. Mitch, ist so etwas wie die Abschlussarbeit dieses Klangseminars. Abgesehen vom Einstieg "Priority feat. P Money" haben die 12 Tracks nämlich kaum noch etwas mit den dystopischen, beinharten war dubs des klassischen Grime zu tun. "Devout" dreht das Genre auf links, betont dessen emotionale Seite und erweitert es um Versatzstücke aus Kammermusik und minimalistischer Elektronik.

Am Ende steht ein verhuschter, fein gezeichneter Entwurf zukünftiger, erwachsen gewordener Herzensmusik. Dazu passt auch die thematische Ausrichtung: ein All-Star-Cast des Londoner Untergrunds erzählt auf "Devout" von den Irrungen und Wirrungen des Familienlebens und dem Kinderkriegen. Grime mag als Goldstandard moderner Pop-Musik angekommen sein - am Ende seiner Entwicklung ist er noch lange nicht. (7.2) Dennis Pohl

Juliana Hatfield - "Pussycat"
(American Laundromat/Cargo, ab 28. April digital, ab 5. Mai auf CD)

Von Trump kann nichts Gutes kommen? Oh doch, gute Musik zum Beispiel. Neunzigerjahre-Ikone Juliana Hatfield, einst Muse von Lemonhead Evan Dando und Vorbild für Dutzende selbstermächtigte Pop-Frauen, litt bis zur US-Wahl unter Schreibblockade, aber dann ging's ab. "It wasn't really writing. It was more like vomiting (…) It happened very quickly and very cathartically", sagte die bald 50-Jährige unlängst in einem unterhaltsamen Interview .

"Pussycat" (damit meint sich die schnurrig wirkende, in Wahrheit aber kratzige Hatfield selbst) ist also das, tadaa, erste Anti-Trump-Rockalbum - und enthält tolle Mitsing-Refrains im süßlichen Bangles-Stil gegen die allgemeine Übelkeit: "Kellyanne" zum Beispiel, eine Gewaltphantasie über die notorische Trump-Beraterin: "You're so hard like a rock in my shoe/ Like every bitch in High School" (…) "I wanna be the first one to make you cry."

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Ohne dass sein Name fällt, kriegt Trump selbst gleich mehrfach Saures, am schönsten in "Short Fingered Man", das noch einmal boshaft die Kleine-Hände-Debatte aufspießt. "When You're A Star", "Touch You Again" und "Sex Machine" widmen sich wütend der zur Schau gestellten Ekel-Virilität des US-Präsidenten, der mit seiner "Grab you by the Pussy"-Mentalität einfach so durch und an die Macht kam (immer noch mind-blowingly unfassbar).

Sie möchte eine Krankheit sein, für die es keine Heilung gibt, wünscht ihm Hatfield, die bis auf die Drums alles selbst gespielt und produziert hat, in "I Wanna Be Your Disease" die Pest an den Hals ("…force you down hard on your knees").

Die Jinglejangle-Gitarren brillieren und jubilieren, die Melodien sind griffig, die Stimmung ist melancholisch bis giftig auf diesem erfrischend ätzenden Power-Pop-Album, dem besten der kontinuierlich aktiven Juliana Hatfield seit "Beautiful Creature" vor 17 Jahren. Mindestens. Manchmal braucht es nur den richtigen Buhmann, um das Riot-Grrrl zu entfesseln. (8.0) Andreas Borcholte


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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