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Abgehört - neue Musik Vamos a la playa

Italo-Pop! Eiscreme! Die französische Band Phoenix kehrt mit einem hinreißend hirnlosen Album zurück. Außerdem: Folk-Druide Richard Dawson, Marika Hackmans Gelächter und Planetenkunde mit Sufjan Stevens.

Phoenix - "Ti amo"
(Warner, ab 9. Juni)

"We're meant to get it on/ Fior di Latte, don't think about it/ Trigger me happy", singt Thomas Mars in einem der neuen Phoenix-Songs. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit diesem Album umzugehen: Fassungsloses Entsetzen. Oder befreiende Hysterie. Rational ist einer Platte, die "Ti amo" heißt, den Italo-Pop der Achtziger feiert und in den Texten über Eiscreme ("Fior di Latte" zum Beispiel) phantasiert, nicht beizukommen.

Zwischen Hysterie und Entsetzen, so muss man sich den Gemütszustand von Thomas Mars, Deck d'Arcy, Christian Mazzalai and Laurent Brancowitz vorstellen, die ihr sechstes Album im November im Schock über den Anschlag auf den Pariser Klub "Bataclan" fertiggestellt haben, einer Konzertlocation, in der die Band aus Versailles schon oft aufgetreten ist. Der wie immer intuitiven und improvisatorischen Songschreibe-Methode von Phoenix folgend, entstanden also Hymnen der Lebensfreude, um das in den Alltag sickernde Grauen, den sich ausbreitenden Schatten des Terrors zu bannen.

"Ti amo! Je t'aime ! ¡Te quiero!", jubilieren sie paneuropäisch im marschierenden Maschinenpop-Rhythmus des Titelstücks über Alarmsirenensounds: "Don't tell me no/ I'll say ti amo till we get along" - ich sage so lange "ich liebe dich", bis wir uns wieder vertragen. Das erinnert in seiner Trotzigkeit ein wenig an den kleinen Iberer Pepe in "Asterix bei den Spaniern", der immer eindrucksvoll die Luft anhielt, bis er seinen Willen bekam. Ob das bei radikalisierten Muslimen in Paris, London oder Berlin viel Wirkung zeigt, ist die Frage. Aber ein versöhnliches, umarmendes Statement ist es natürlich trotzdem. Und es strahlt umso heller, wenn man es im Zusammenhang mit anderen Beschwörungen von Liebe, Lust und Bejahung sieht: Justin Bieber, der die Massen beim Benefizkonzert in Manchester zum "Love"-Chor animiert ; Ariana Grande und Miley Cyrus, die zusammen "Don't Dream It's Over" singen  - und nicht zuletzt die zwischen Abba-Pop und Simple-Minds-Pathos schunkelnde neue Arcade-Fire-Single "Everything Now". 

Ohne es absehen zu können oder intendiert zu haben, fallen Phoenix mit ein in diesen selbstvergewissernden Choral der westlichen Welt, ein Aufstampfen des Positivismus gegen all den Irrsinn, der ja nicht nur den Terror umfasst, sondern auch Trump und das Gefühl, alle Ordnung, alle Geborgenheit ginge zum Teufel.

Diese seufzende Melancholie ist ebenfalls Bestandteil der Musik auf "Ti amo", die sich mit fröhlichen Strandparty-Hirnlosigkeiten wie "Tuttifrutti" oder "Via Veneto" ins unschuldige "Vamos a la playa"-Feeling zurücksehnt, als Sophie Marceau bei uns pickeligen Teenies ein erstes "Boum" auslöste und Gazebo im Mainstream-Radio darüber sinnieren durfte, wie sehr er Chopin mag. Michelangelo, Picasso, Beethoven, Battiato und, äh, die Buzzcocks werden auch von Phoenix beschworen. Es sind Namen, die in Nonsenstexte im Englisch-Französisch-Italienisch-Patchwork eingewebt werden, als seien sie bloße Kulturtrigger, Artefakte einer gegen Düsternis und Barbarei zu verteidigenden Kultur.

Schöngeist. Kunstbetrunkenheit und Hedonismus waren schon immer die Hauptbestandteile des Phoenix-Sounds, der 2009 mit "Wolfgang Amadeus Phoenix" und Hits wie "Lisztomania" einen barocken Schlusspunkt unter die Nullerjahre setzte. Seit dem ratlosen "Bankrupt!"-Album von 2013 hielt man Phoenix tatsächlich für erledigt, verschluckt vom Zeitgeist, der sich nicht mehr mit Oberflächenspiegelungen beschäftigen, sondern tiefer in Inhalte eindringen wollte. Wer diese Haltung zu Recht vertritt, wird sich beim Hören der Raffaello-süßen Nichtigkeiten von "Ti amo" seine grauen Haare raufen, wenn Mars im naiven Pet-Shop-Boys-Pop-Duktus von "J-Boy" den Klimawandel in eine beiläufige Metapher für seinen Liebeskummer randomisiert: "No more coral on the atoll".

Oder aber man gibt sich einfach einen Ruck, lässt sich von Thomas Mars auf ein samtig-kühles gelato einladen, und folgt seinem wohltuend unverschämten Dolce-Vita-Werben wider das Desaster: "Ti amo! Je t'aime ! ¡Te quiero!... open your legs", geht der Text übrigens weiter. Und es war Sommer. (9.0) Andreas Borcholte

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Marika Hackman - "I'm Not Your Man"
(Caroline/Universal, seit 2. Juni)

Marika Hackmans neue Platte "I'm Not Your Man" beginnt mit Gelächter. Im Opener "Boyfriend" packt die Songwriterin über ihre Liebe zu einer Frau aus und adressiert an deren Noch-Freund voller Ironie: "It's fine 'cause I am just a girl/ 'It doesn't count'/ He knows a woman needs a man to make her shout". In der Single hallt das Echo von Radioheads "My Iron Lung", im Video hat Hackman ihren "Smells Like Teen Spirit"-Auftritt - überhaupt klingt das Album, als hätte sie Nirvana zum Frühstück gehört: mehr Rock-Hooks, weniger Gitarrenzupfen. Als Verstärkung im Studio: die vier Indie-Rockerinnen von The Big Moon.

Es ist also ein befreiendes Gelächter. Nach ihrem Debüt vor zwei Jahren galt die 25-jährige Engländerin als neue Folk-Elfe. Und, zugegeben, das traumwandlerische "We Slept at Last" war voller Mitternachtsmusik, mit Referenzen zu Shakespeare oder Debussy. Schlabber-T-Shirt-Fan Hackman färbte sich erst mal die Haare blau und tauchte unter. Bis jetzt. "I'm Not Your Man" - ich bin nicht euer Mädchen, soll das heißen, ich spiele nicht mit. Sie macht sich einen Spaß aus Genderklischees und haut auf den Tisch, der, siehe Album-Artwork von Künstler Tristan Pigott, mit phallischen Gurken und Kakteen gedeckt ist.

Das Album vollzieht den Ablauf einer Beziehung: Übermut am Anfang ("My Lover Cindy"), leise Zerstörung am Ende. In "I'd Rather Be with Them" brodelt derart intensiv der Selbsthass über den Gitarren, dass man hinterher besser kurz an die frische Luft geht.

Auch textlich befreit sich Hackman: Statt von Wasser, Seen und Bäumen zu singen, fühlte sie sich ermutigt, "einfach nur über die Tatsache zu schreiben, dass ich mit meiner Freundin Schluss gemacht habe", sagte sie in einem Interview. "Violet" etwa ist eine Ode an Cunnilingus: "I'd like to roll around your tongue/ Caught like a bicycle spoke/ You eat, I'll grow and grow/ Swelling up until you choke". Hackman besitzt die Gabe, Gefühle nur anhand der Beschreibung von Körperteilen zu manifestieren: Zungen werden ausgelutscht, Augen sind salzig, der Mund ein Loch. Beim Singen genießt sie jedes Wort wie eine Süßigkeit.

Früher wurde Hackman mit Laura Marling in einem Atemzug genannt, mit der sie auch auf Tournee war. Aber ach, was sollen die Vergleiche: Come as you are, Marika! Diese Selbstermächtigung ist beeindruckend. (8.2) Ariana Zustra

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Richard Dawson - "Peasant"
(Domino/Goodtogo, seit 2. Juni)

Richard Dawson, der hochbegabte Folk-Musiker aus Newcastle, lässt sich nicht lumpen: Mit "The Vile Stuff, dem 16 Minuten langen Zentralstück seines letzten Albums "Nothing's Important" (2015) wollte er angeblich Hieronymus Bosch mit Dantes Inferno kreuzen. "Peasant", sein umwerfendes neues Album, verriet er dem Musikblog "The Quietus", sei nun wiederum ein Versuch, Musik wie eines der kleinteiligen Panoramen des niederländischen Meisters Pieter Breughel dem Älteren zu malen.

Zu diesem Zweck träumte er sich in eine mittelalterliche Szenerie, in ein Dorf im altwalisischen Königreich Bryneich, hoch oben im Yr Hen Ogledd, dem "alten Norden" Englands. Dort tummelt sich illustres Personal, ein "Soldier", ein "Weaver", ein "Beggar", eine "Masseuse" und eine "Prostitute", aber auch ein "Shapeshifter" und ein "Ogre". Alltäglichen wie mythischen Gestalten widmet Dawson mit deklamierender Stimme je eine wirbelnde Weise, die er mit Schicht um Schicht eines zunächst archaisch anmutenden Sounds illustriert - ein Hämmern, Klopfen, Schwirren, Knarren und Heulen, aus dem sich jedoch immer wieder kristalline, betörende Pop-Melodien herausschälen, wie in "Beggar" oder dem vorab veröffentlichten "Ogre". Man stelle sich in etwa vor: The Divine Comedy ohne die Ironie oder The Bevis Frond ohne die Gitarrenwand.

"The ebb and tide will soon reveal it's secrets" heißt es am Ende von "Ogre", ins fiebrigste Falsett geschraubt. So ist es auch mit diesem Album, das sich der Ursprünglichkeit widmet und durch den Lärm und Nebel der Jahrhunderte zu größter Klarheit und Transzendenz findet. Keine Frage, mit diesem Meisterstück empfiehlt sich Richard Dawson als Britanniens Top-Druide, ein Miraculix des Folk. (8.5) Andreas Borcholte

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Sufjan Stevens, Nico Muhly, Bryce Dessner, James McAlister - "Planetarium"
(4AD/Beggars, ab 9. Juni)

Sufjan Stevens' letztes Album "Carrie & Lowell" erzählte von den Erinnerungen eines Sohnes an seine Eltern, vor allem an die psychisch erkrankte Mutter, von Selbstzerstörung und Schmerz. Das hatte mit der geläufigen Indie-Melancholie nicht mehr viel zu tun. Die sparsam instrumentierten Songs waren nicht kuschelig, sondern berichteten, was vorgefallen ist: "When I was three, three maybe four/ She left us at that video store". Das Universum dieses Albums war das denkbar kleinste: die eigene dysfunktionale Familie.

Noch vor der Arbeit an "Carrie & Lowell" hat Stevens sich mit dem Komponisten Nico Muhly, dem Songwriter Bryce Dressner (The National) und dem Perkussionisten James McAlister (u.a. The Album Leaf) zusammengetan, um Stücke zu schreiben, die den Planeten unseres Sonnensystems gewidmet sind. Dass die Idee, die an schlimme Konzeptalben und an Gustav Holsts maximal pompöse Orchestersuite "Die Planeten" gemahnt, überraschenderweise aufgeht, liegt auch an Muhly und Dessner, zwei der umtriebigsten und interessantesten jungen Komponisten zurzeit.

Insbesondere Dessners Stücke gehen auf den strengen Minimalismus Steve Reichs und Philipp Glass' zurück. Indietronic verbindet sich so auf "Planetarium" mit Neoklassik in einer Weise, die nicht im behäbigen Wohlklang versackt. "Jupiter" etwa, das zweite Stück, beginnt mit einem stoischen Plastikbeat, Stevens singt Kryptisches, Loops und Vocoder-Effekte werden sukzessive ineinandergeschachtelt, Streicher- und Bläsersätze fügen sich ein - und nach sechs Minuten verwandeln ein kaputter Rumpelbeat und Stevens' Falsett das Stück ein weiteres Mal in etwas Neues. Das Orchestrale auf "Planetarium" ist nicht monumental, sondern verspielt, auch wenn es laut wird.

Überhaupt passiert alles mit Leichtigkeit: "Moon" erinnert an die besten Momente des Notwist-Elektronikers Console, "Black Energy" und "Sun" sind zwei formvollendete Ambient-Stücke. Was alles in diesem Album an Ideenreichtum steckt, konzentriert sich in dem fünfzehnminütigen "Earth" - mitsamt dem Humor, der um die cheesyness der ganzen Unternehmung weiß.

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All das strahlt, trotz immer wieder aufwallendem Bombast, keine Erhabenheit ab, sondern eine kindliche Freude am Entdecken und Erfinden. Und, wie so oft bei Sufjan Stevens: Zerbrechlichkeit: "So if you won't hold me/ I have no objections", singt er in "Neptune", es geht um die "strange waters" des Planeten. "So if you don't trust me/ It's best if I drown". Vielleicht brauchte es ja das Eine, den Eskapismus in die endlose Weite, um das Andere, das Intimste, durcharbeiten zu können. Egal, weil spekulativ: "Planetarium" ist allemal ein sagenhaft schönes Komplemetäralbum zu "Carrie & Lowell". (8.5) Benjamin Moldenhauer

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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