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Nora Tschirner: Körperideale und Komplexe

Foto: picture alliance/ Bodo Marks/ dpa

Nora Tschirner über Körperideale "Hässlichkeit? So what!"

Der Fluch von Schönheitsidealen: Nora Tschirner spricht über falsche Körperbilder, Heidi Klum - und weshalb sie in "Keinohrhasen" wohl selbst mit Buckel zum Star geworden wäre.
Von Sonja Hartwig und Alexander Kühn
Zur Person

Nora Tschirner, 35, begann ihre Karriere 2001 als Moderatorin bei MTV. Inzwischen ist sie eine der gefragtesten deutschen Schauspielerinnen. Sie spielte in Komödien wie "Keinohrhasen" und "What a Man" mit. Seit 2013 agiert sie als TV-Kommissarin im Weimar-"Tatort". Gerade ist die Dokumentation "Embrace" auf DVD erschienen, bei der Tschirner in unterschiedlichen Funktionen mitwirkte.

SPIEGEL ONLINE: Frau Tschirner, wie schön muss man sein, um im deutschen Fernsehen Karriere zu machen?

Nora Tschirner: Ich glaube, es ist andersrum. Das menschliche Auge findet das schön, woran es gewöhnt ist. Zum Beispiel den Eiffelturm. Ein Stahlungetüm, wie von Aliens hingeworfen. Der wurde von den Parisern gehasst, noch bevor er fertig gebaut war. Heute sagen alle: Oh, der ist so filigran und pittoresk. Von wegen! Er hat einfach lange genug da gestanden. So ist das beim Fernsehen: Wenn jemand lange genug da ist, sagen die Leute irgendwann: Was für ein attraktiver Mensch!

SPIEGEL ONLINE: Es kommt im Fernsehen also nicht darauf an, gut auszusehen?

Tschirner: Was heißt gut aussehen? Es ist bestimmt nicht ausschlaggebend, ob die Gesichtssymmetrie stimmt oder der Goldene Schnitt eingehalten wird. Menschen, die ultra symmetrisch sind, können der langweiligste Honk der Welt sein, mit null Charisma. Nehmen Sie dagegen Benedict Cumberbatch, den Sherlock Holmes, der sieht nicht klassisch schön aus, aber er hat sein eigenes Schönheitsideal erschaffen.

SPIEGEL ONLINE: Schönheit als Resultat von Erfolg?

Tschirner: Und von emotionaler Verbundenheit. Leute spielen sich in das Herz des Publikums, und danach wird die Optik davorgeschoben.

SPIEGEL ONLINE: Wir haben Ihnen zwei Fotos mitgebracht, beide zeigen Sie im Til-Schweiger--Film "Zweiohrküken". Das eine als Mauerblümchen Anna mit dicker Brille. Das andere als zurechtgemachte Sexbombe. Wer ist schöner?

Tschirner: Wenn man sie mit dem Lineal vermisst, ist wahrscheinlich die mit den künstlichen Brüsten schöner. Sie ist eine Porno-Fantasie. Aber in Anna haben sich Millionen von Zuschauern verliebt, weil sie sich in die Seele schauen lässt.

SPIEGEL ONLINE: Das ist das ganze Geheimnis?

Tschirner: Hätte Til die Rolle jemandem mit einer Hasenscharte gegeben, und sie wäre ein Hollywoodstar geworden, weil sie so charismatisch ist, würden alle sagen: Hasenscharte ist das, was man haben muss. Die Attraktivität von Anna und auch von mir funktioniert darüber, dass ich aufmache und die Leute reinlasse. Jetzt könnte man spekulieren: Was, wenn du ein amputiertes Bein hättest? Oder einen Buckel? Ich schwöre, wenn Til gesagt hätte, ich besetze jemanden mit Buckel, dann hätten die Zuschauer sie nach anderthalb Stunden genauso schön gefunden. Weil die Geschichte sie berührt hat.

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Nora Tschirner: Körperideale und Komplexe

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SPIEGEL ONLINE: Was glauben Sie: Wie viel Prozent Ihres Erfolgs verdanken Sie Ihrem Talent, Ihrem Fleiß, Glück - und wie viel Ihrem Aussehen?

Tschirner: Schwer zu sagen. Das hat nicht in erster Linie mit dem Äußeren zu tun. Ich finde es witzig, wenn ich als Ermittlerin im Parka bei einer "Playboy"-Umfrage auf Platz zwei der sexiesten "Tatort"-Kommissarinnen lande. Und das nicht, weil ich den Parka mal ein bisschen enger mache, sondern weil ich da mit einer Art rangehe, an die andere Leute offenbar emotional andocken wollen.

SPIEGEL ONLINE: In Porträts über Sie heißt es immer wieder, Sie seien "das schöne Mädchen aus Pankow". Fühlen Sie sich treffend beschrieben?

Tschirner: Ach, für Schönheit gelobt zu werden, ist nicht erstrebenswert. Natürlich fände ich es schade, wenn alle betreten wegschauen würden, sobald ich in einen Raum komme. Trotzdem ist es ein Kompliment, das mich aus der Situation raushaut. Wenn ich den Spiegel vorgehalten bekomme, habe ich eine Sicht auf mich selbst, die ich so nicht haben möchte.

SPIEGEL ONLINE: Weil Sie sich mit sich selbst beschäftigen müssen?

Tschirner: Weil ich aus dem Leben fliege. Ich möchte lieber mit meinem Gegenüber verbunden bleiben. Ich kenne Leute, die haben kaum selbstvergessene Momente. Sie sind sich ständig bewusst über ihre Wirkung, und ich finde, das ist ein armer Lebenszustand, denn man verpasst unglaublich viel.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind Co-Produzentin der Dokumentation "Embrace" , in der es um weibliche Schönheitsideale geht - und um die Frage, wie man sich davon löst. Warum interessiert Sie dieses Thema?

Tschirner: Weil ich zum Beispiel um mich herum erlebe, wie gesellschaftliche Kräfte brachliegen. Ich habe Freundinnen aus meiner Schulzeit, die waren vielversprechende Frauen. Kluge Köpfe, mit wirklich guten Ideen. Inzwischen sind sie an einem Punkt angekommen, wo sie sich fast nur noch mit der Veränderung ihres Körpers beschäftigen. Ich sehe das und denke: Wir haben überhaupt nicht die Weltlage, dass ihr alle euch gemütlich in eurem Spiegelkabinett einrichten könnt.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie eine Erklärung für das Verhalten dieser Frauen?

Tschirner: Es sind die Nachwirkungen eines lange gefütterten Frauenbildes. Es hat aber auch mit unserer Leistungsgesellschaft zu tun. Mit Optimierungswahn. Davon sind Männer ja genauso betroffen. Und dann stehen wir da und sagen: Warum haben jetzt alle Trump gewählt? Na ja, Leute, wenn wir jahrelang auf Geld, Status, Äußerlichkeiten bauen, dann ist es doch klar, dass derjenige irgendwann Chef wird, der das am lautesten propagiert. Ich denke schon, dass das einen Teil des Ganzen ausmacht.

SPIEGEL ONLINE: Die Botschaft des Films ist: Sorge dich nicht, lebe. Nimm dich an, wie du bist. Eine etwas platte Aussage, oder?

Tschirner: So wie Sie das jetzt formuliert haben: vielleicht. Aber man kann das auch unplatt ausdrücken. Es geht um eine Befreiung des Denkens, um Lebensglück und Zufriedenheit. Ich bin ein großer Fan von Selbsthilfebüchern, von Lebensweisheiten aus allen Religionen und Philosophien. Ja, manches ist ein Klischee. Aber der Mensch ist einfach auch ein bisschen Klischee.

SPIEGEL ONLINE: Wer hat sie am meisten berührt?

Tschirner: Taryn Brumfitt, deren Idee der Film war. Sie hat nach der Geburt von drei Kindern lange darunter gelitten, dass sie nicht mehr ihr früheres Gewicht hatte. Aber wie soll eine Frau ihrem Kind beibringen, seinen Körper zu lieben, wenn sie selbst es nicht tut? Und mich hat die Mutter berührt, die sagt, sie habe jeden Tag das Gefühl, ihrem Kind gegenüber nur noch Schadensbegrenzung zu betreiben, weil es so von medialen Botschaften überschüttet wird. Sexyness hier, Schönheitswahn da. Es ist furchtbar. Und außerdem ein Denkfehler. Attraktivität und - von mir aus - "Sexyness" sind immer eine Frage des Selbstbewusstseins. Viele Frauen machen sich kleiner, als sie es nötig hätten, anstatt zu sagen: Klar bin ich hot. Ein gutes Gegenbeispiel ist die Sängerin Beth Ditto. Da könnte man jetzt sagen, gut, sie ist aber auch eine attraktive Füllige. Nein: Sie hat einfach Bock auf sich.

SPIEGEL ONLINE: Die Frauen in der Doku sprechen sehr hart über ihren Körper. Kennen Sie das von sich?

Tschirner: Die ganzen Komplexe, die man in der Jugend hat, kenne ich auch. Ich fand meine Finger zu lang und zu dünn, ich fand meine Augenbrauen zu dick. Ich fand meine Haare in einer bestimmten Länge zu dünn. Ich habe einen Oberlippenbart, den fand ich ätzend, ich habe Flaum am Rücken, nach Saison mal mehr, mal weniger. Ich fand, ich habe zu wenig Oberweite, aber einen zu großen Bauch, ich fand meine Proportionen komisch, ich fand meine Haltung komisch.

SPIEGEL ONLINE: Wurden Sie gemobbt?

Tschirner: Na ja, gemobbt. Jeder kriegt halt Kommentare. Überall wird gewertet, bewertet und eingeordnet. Und das irritiert natürlich. Ich habe in der Schule schon entsprechende Sachen abbekommen. Selbst zu "Keinohrhasen"-Zeiten hieß es noch, es wäre schön, wenn sie überhaupt Brüste hätte.

SPIEGEL ONLINE: Wer hat das gesagt?

Tschirner: Habe ich immer wieder gehört. Es gab sogar eine StudiVZ-Gruppe "Nora Tschirner ist eine Birne". Weil ich wenig Brust und einen breiten Po habe.

SPIEGEL ONLINE: Die Kommentare dort haben Sie alle gelesen?

Tschirner: Ich habe mich recht früh davon verabschiedet, das alles ernst zu nehmen.

SPIEGEL ONLINE: In der Dokumentation sagen Sie: Mein Körper ist mein Zuhause.

Tschirner: Das war ein Prozess, der über Jahre ging. Mittlerweile habe ich mich freigeschwommen. Aber es gibt immer noch Momente, wo ich mich frage: Warum bin ich gerade so selbstzerstörerisch? Wenn mein Körper mein Zuhause ist, warum kümmere ich mich dann nicht gut genug um die Regenrinne oder das Dach?

SPIEGEL ONLINE: Coco Chanel hat gesagt: "Schönheit beginnt in dem Moment, in dem du beschließt, du selbst zu sein."

Tschirner: Wie, und das ist Ihnen jetzt nicht zu platt? Ja, das klingt gut, obwohl ich glaube, es gibt nicht den einen Moment.

SPIEGEL ONLINE: Wie sehr unterwerfen Sie sich noch einem Schönheitsideal?

Tschirner: Immer weniger. Es gibt auch kaum noch Druck. Mein Leben ist nicht so wahnsinnig öffentlich. Die Ausnahmen sind Kinopremieren, aber da gehe ich nur über den roten Teppich, wenn es meine eigenen Filme sind. Und das mittlerweile sehr entspannt und selbstbestimmt. Ansonsten gehe ich hintenrum rein. Oder komme erst gar nicht.

SPIEGEL ONLINE: Für unser Fotoshooting heute haben Sie sich aber ordentlich Zeit in der Maske gegönnt.

Tschirner: Make-up ist ja auch nicht per se schlecht. Wichtig für mich ist nur, dass es vor allem um Selbstbestimmung geht und ich mich im Alltag nicht unkomplett fühle, wenn ich mal nicht geschminkt bin. Oder wenn - wie bei "Keinohrhasen" - mein Gesicht riesengroß und ohne viel Schnickschnack auf der Leinwand erscheint.

SPIEGEL ONLINE: Aber wenn Sie mit fettigen Haaren und ohne Make-up von einem "Bild"-Paparazzo erwischt werden, stört Sie das schon.

Tschirner: Aber nicht wegen der fettigen Haare, sondern weil ich mein Privatleben schützen möchte.

SPIEGEL ONLINE: Waren Sie schon mal verliebt...

Tschirner: ...oh ja!

SPIEGEL ONLINE: ...in Ihr eigenes Spiegelbild?

Tschirner: Verliebt ist das falsche Wort, weil es "Liebe" beinhaltet, und darum geht es bei Narzissmus nicht. Man ist von sich selbst aufgegeilt. Es ist etwas Rauschhaftes. Und oberflächlich.

SPIEGEL ONLINE: Ein Gefühl, das Sie kennen?

Tschirner: Es gab manchmal Phasen, wo ich mich über mein Äußeres definiert habe, ja. Bei Shootings oder auf dem roten Teppich hatte ich einen Blick drauf, den ich heute nicht mehr hinkriege, ohne mich zu schämen. Ein Blick, der alles auf die gängigen Schönheitsideale abgleicht. Der beinhaltet: Huch, ich merke ja gar nicht, dass ich gerade fotografiert werde. Klassisch selbstverliebt, bisschen unnahbar, bisschen sexy, bisschen kalt.

SPIEGEL ONLINE: Wie sind Sie mit Ihrer Eitelkeit umgegangen?

Tschirner: Ganz unterschiedlich. Ich habe vor "Zweiohrküken" aufgehört zu rauchen und hatte dadurch bei den Dreharbeiten acht Kilo mehr als sonst. Til hatte auch zugelegt, und wir hatten uns geschworen, uns nicht darum zu scheren. Nach den Dreharbeiten hatte ich eine ziemlich unglückliche Phase, habe wieder angefangen zu rauchen, mich schlecht ernährt und rapide abgenommen. Schon bei der Premiere war ich wesentlich schlanker - und habe ein wahnsinnig gutes Feedback dafür bekommen. Wie ich das so schnell geschafft hätte und so. Da gab es eine komische Reaktion bei mir. Obwohl ich unglücklich war, spürte ich eine seltsame Befriedigung darüber, dass ich so dünn und so "hot" war und in die Mustergrößen beim Promo-Shooting gepasst habe. In die Falle würde ich heute nicht mehr gehen, weil mein Frühwarnsystem viel eher anschlagen würde.

SPIEGEL ONLINE: Wie viel Mut haben Sie, in Rollen hässlich zu wirken?

Tschirner: "Mut ist die Überwindung von Angst. Und hässlich auszusehen, ängstigt mich nicht." Das hat, glaube ich, die Schauspielerin Lena Dunham gesagt. So geht es mir auch. Ich hab keine Angst davor, dass Menschen mich nicht mögen, weil ich in einem Film unvorteilhaft rüberkomme. Angst hätte ich davor, dass mir etwas zustößt. Oder dass ich meine Stimme nicht mehr benutzen kann. Aber Hässlichkeit? So what! Als ich in "Zweiohrküken" diese Unterwäscheszene hatte, fanden das alle total mutig. Nur ich nicht, ich weiß ja, wie ich aussehe. Ich würde alles machen, wenn ich es für sinnvoll halte. Aber ich würde mir jetzt nicht in den Schritt filmen lassen ohne Botschaft, nur um mutig zu sein. Gerade hatten wir für den "Tatort" eine Szene, in der ich nur Unterwäsche trug. Kurz hatte ich den Impuls: Dafür musst du trainieren. Ich erteilte mir dann aber selbst ein Verbot: Nora, Narzissmus-Sport gibt's nicht.

SPIEGEL ONLINE: Welches Schönheitsideal transportiert das deutsche Fernsehen?

Tschirner: Das kann man so pauschal nicht sagen. Mein gruseligstes Erlebnis als Zuschauerin war " Germany's Next Topmodel". Früher fand ich das lustig, wir haben das immer im Freundeskreis geschaut, mega unterhaltsam. Als aber in der fünften, sechsten Staffel die erste Generation Kandidatinnen kam, die schon mit der Sendung aufgewachsen waren und genau wussten, wie sie sich verhalten müssen, hat mich das ins Mark getroffen. Mir tat das so leid. Seither kann ich das nicht mehr gucken. Ich bin mehrmals angefragt worden für die Sendung, für Schauspielworkshops, auch im Finale. Ich denke, das erledigt sich jetzt mit unserer Dokumentation.

SPIEGEL ONLINE: Was war anders an diesen Mädchen?

Tschirner: Die haben schon den richtigen Gang drauf und diesen "Ich weiß, was der Kunde will"- Slang. Die Verschiedenheit der Körper ist komplett verschwunden, auch das Renitente. Die bitchen da schon noch manchmal rum, aber vor allem haben sie so eine karrieristische Haltung. Ich dachte damals nur: Wo sind die ganzen Mädels hin? Und ich sage nicht, dass ich die Kandidatinnen doof finde, im Gegenteil, die liegen mir irgendwie am Herzen. Aber die waren doch alle mal kleine Mädchen, die sich interessiert haben für die Welt, die etwas werden wollten, und irgendwann diese Sendung guckten, und dann werden die beballert mit Werbescheiß, und möchten plötzlich Model werden. Dagegen spricht erst mal nichts, es spricht gegen fast keinen Beruf der Welt etwas. Gegen die Gewichtung schon. Gegen das Vorgaukeln, wie wichtig und substanziell das alles sei. Dass es um Persönlichkeit und individuellen Erfolg ginge. Aber auch da muss man sagen: Heidi Klum ist nicht der Feind.

SPIEGEL ONLINE: Sondern?

Tschirner: Sie ist diejenige, die das macht. Aber sie ist in meinen Augen doch auch ein Produkt des Ganzen. Es gibt keine Sündenböcke, davon müssen wir wegkommen. Es gibt nicht diese eine Person, die allein verantwortlich ist, oder die sagt: Hähähä, ich bin der einzige Mensch, der dabei wirklich glücklich wird. Bis in die Chefetagen großer Konzerne sitzen sie mit Depressionen da. Aber du kannst nicht sagen: Der oder die ist schuld. Wir sind in einem erkrankten System, das wir alle von innen ändern können.

SPIEGEL ONLINE: Sie zeichnen ein düsteres Bild.

Tschirner: Düster wäre es nur, wenn man nichts ändern könnte. Es ist wichtig, uns bewusst zu machen, wie früh wir von unserer inneren Stimme wegtrainiert werden und wie wir uns diese zurückerobern. Die uns sagt, was uns und anderen wirklich guttut, was Anstand ist und ein gutes Leben. Ich kriege einen Krampf, wenn ich diese Schnell-Läufer-Klassen sehe, wo irgendwelche 16-Jährigen schon Abitur machen, ganz helle Leute, aber wenn mal ein Tisch getragen werden muss, weil die Lehrerin das nicht allein schafft, dann fragen sie: Was kriege ich dafür? Das ist nicht gut. Und es ist auch nicht der Weg, um mit 89 auf dem Sterbebett zu liegen und zu sagen: Ich habe ein gutes Leben geführt.

SPIEGEL ONLINE: Wie stellen Sie sich diesen Moment für sich selbst vor?

Tschirner: Ich weiß jedenfalls, dass ich nicht auf dem Sterbebett liegen werde und denke: Boah, wie hab ich 60 von diesen - hoffentlich - 89 Jahren so verschwendet. Meine Fresse, wat hätt ich vögeln können, wenn ich nur ein bisschen straffer ums Bindegewebe gewesen wäre! Das wird nicht passieren. Es wird sich an Begegnungen messen, an Tätigkeiten, an Sachen, die ich erlebt habe, Und ich würde als 89-Jährige meinem 40-jährigen Ich die Ohren langziehen, falls ich nur einen behämmerten Tag damit verschwendet habe, über meine Falten oder so was nachzudenken. Ich würde es vom Totenbett aus anschreien: Soll ich dir mal erzählen, wie das von hier aussieht, du Arsch? Ich liege hier und kann mich nicht mal mehr bewegen!

SPIEGEL ONLINE: Werden Sie Ihrer Schönheit nachtrauern?

Tschirner: Ganz ehrlich: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube auch nicht, dass es hilfreich ist. Stellen Sie sich vor, ich werde vom Lkw überfahren, und ich muss kurz überlegen, ob ich doch zu hässlich war, dann ist der Moment ja schon vorbei. Nein, ich trainiere schon die ganze Zeit für diesen Tag, ich trainiere dafür, glücklich zu sterben. Das mache ich, indem ich glücklich lebe, und je mehr Tage ich auf dem Glücklich-Leben-Konto habe, desto phänomenaler wird der Abgang, desto leichter werde ich sagen: Ich freue mich, dass ich da sein durfte. Arrivederici.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Angst vor dem Älterwerden?

Tschirner: Ich habe mich damit abgefunden, dass der Verwelkungsprozess begonnen hat. Und versuche ihm staunend zuzusehen.

SPIEGEL ONLINE: Marlene Dietrich hat sich im Alter der Welt entzogen, um makellos in Erinnerung zu bleiben.

Tschirner: Oh Gott.

SPIEGEL ONLINE: Kein Modell für Sie?

Tschirner: Nein. Ich bin zu verliebt in Meryl Streep und ihre Art, mit sich und ihrem Älterwerden umzugehen. Ich glaube, sie hat Spaß. Sie ist bei sich. Sie ist die Überfrau. Eine Leuchtrakete.

SPIEGEL ONLINE: Ist sie schön?

Tschirner: Für mich ist sie das. Ich bleibe ja nie an der äußeren Hülle hängen, sondern schaue da aus Versehen immer ganz schnell durch. Oh Gott, wenn alle Leute so mit sich befreundet sein könnten wie Meryl Streep, wenn alle so mit sich im Reinen wären, so strahlen, so funkeln würden, dann hätten wir den ganzen Tag was zu gucken. Das wäre die totale Reizüberflutung.

SPIEGEL ONLINE: Frau Tschirner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.