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"Polizeiruf" mit Charly Hübner: Kampf gegen die Angst

Foto: NDR/ Christine Schroeder

Rostock-"Polizeiruf" über Sexualstraftäter Selbstjustiz am Gartenzaun

Das Böse wohnt gleich nebenan? In dem Neujahrs-"Polizeiruf" aus Rostock geht es um Sexualstraftäter und aufgebrachte Nachbarn. Wer einfache Antworten sucht, braucht nicht einzuschalten.

Wie spricht man über Sexualität, wenn man keine Sexualität mehr hat? Vielleicht so: "Ich nehme brav jeden Tag meine Antificktabletten, ich kriege nicht mal bei Claudia Schiffer einen hoch", erklärt ein überführter Sexualstraftäter, der Antiandrogene schluckt, um seinen Trieb zu hemmen, der Kommissarin, die ihn einer weiteren Vergewaltigung und eines Mordes verdächtigt.

Dann geht der Mann auf die Ermittlerin zu und zischt: "Aber vielleicht klappt es ja bei Dir." Die versucht den vulgären Angriff ebenso vulgär zu kontern: "Vielleicht waren Sie ja auch zu Hause und haben einen schönen kleinen Schwulenporno geguckt."

Die Verantwortlichen des Rostocker "Polizeiruf" wagen einen gefährlichen Balance-Akt. Eine Obdachlose wurde mit einer Bierflasche zu Tode penetriert; ins Zentrum der Ermittlungen geraten schnell zwei verurteilte Sexualstraftäter, die nach ihrer Entlassung in einem Haus wohnen, das von aufgebrachten Nachbarn mit Galgen und Lynchaufrufen bemalt worden ist.

Ist die Welt brutal, bin ich brutaler

Verbalgewalt in der Wohnstraße, Selbstjustiz am Gartenzaun. Den Polizisten in diesem Krimi gelingt es nicht, für Ordnung zu sorgen. Im Gegenteil, die Sprache der Ermittler passt sich der Obszönität der Tat an. Ein klassisches Cop-Spielchen: Ist die Welt brutal, bin ich brutaler.

Andauernd wird hier auf dem Revier vom Vögeln, Ficken und Auf-die-Fresse-Hauen gesprochen, so als wolle man beweisen, dass einen die Grausamkeit der Tat kalt lasse. Dass diese Hart-härter-am-härtesten-Spirale nicht ins Leere läuft, liegt auch an dem großartigen Duo Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner, die als Katrin König und Alexander Bukow Empathie hinter einer betont empathielosen Sprache aufblitzen lassen.

Ein weiterer Balanceakt der Filmemacher (Buch: Susanne Schneider, Regie: Christian von Castelberg): Es gibt in diesem Themenkrimi keine talkshowtauglichen Gefahrenabwägungen über den Umgang mit Sexualstraftätern, die Konfrontation mit dem Kranken wird nicht durch eine austarierte Diskussion über mögliche Lösungsstrategien abgefedert.

Zwar werfen die Ermittler lautstark Argumente hin und her. Schreit der eine: "Was interessieren mich dem seine scheißpsychosozialen Grundbedürfnisse." Schreit die andere: "Wenn man Pädophile mehr integrieren würde, dann könnten im Park ein paar Kinder im Jahr mehr gerettet werden." Am Ende aber bleibt der Zuschauer allein mit dem Grauen.

Dieser "Polizeiruf" ist harter Stoff. Und also ein guter Ersatz für den verstörenden Krimi, der ursprünglich am Neujahrssonntag gezeigt werden sollte: In dem abgesagten Dortmunder "Tatort" geht es um ein Gewaltszenario, das Ähnlichkeiten mit dem Berliner Anschlag aufweist und deshalb aus Pietätsgründen verlegt wurde. Eine Maßnahme, die das Erste offenbar ins Chaos stieß: Als Ersatz sollte ursprünglich ein furchtbar schlichter Knuddel-"Tatort" über einen Schülerstreich aus dem Saarland gezeigt werden, doch dann ging den Verantwortlichen wohl auf, dass das im Vergleich zu dem Islamistenkrimi aus Dortmund einen extremen Relevanzabfall bedeutet hätte.

Der ist nun mit dem extrem kurzfristig ins Programm gehobenen Rostocker "Polizeiruf" abgewendet. Hier wird ein Gesellschaftspanorama entfaltet, in dem der Trieb der einen und die Panik der anderen gefährlich zusammenwirken. Ein entfesseltes, ja entgrenztes Angstszenario - das in der zweiten Hälfte leider erhebliche Schwächen aufweist. Da geht es, inhaltlich völlig unnötig, nach Polen zu einem Kinderpornoring. Und die Plausibilität leider flöten.

Der verstörenden Gesamtwirkung dieses Neujahrskrimis tut das keinen Abbruch: auf ein schreckliches 2017.

Bewertung: 6 von 10 Punkten


"Polizeiruf 110: Die Angst heiligt die Mittel", Sonntag, 1. Januar, 20.15 Uhr, ARD