"Berlin Syndrom" im Kino:Die Großstadt, das Monster

Die Australierin Clare (Teresa Palmer) wollte die volle "Berlin Experience" und bekommt einen Horrortrip gratis dazu.

Die Australierin Clare (Teresa Palmer) wollte die volle "Berlin Experience" und bekommt einen Horrortrip gratis dazu.

(Foto: MFA)

"Berlin Syndrom" ist ein Kinothriller über Backpacker, die Anonymität der Großstadt - und die Gefahr, einem Unbekannten leichtfertig in seine Wohnung zu folgen.

Von Philipp Stadelmaier

Um den Hals trägt sie eine Schnur mit einem Ring, den ihr die Mutter mitgegeben hat. Damit sie ihn verpfänden kann, wenn sie in Schwierigkeiten gerät. Nur bekommt sie bald Probleme, die so schlimm sind, dass ihr der Ring nichts nützt.

Clare ist Australierin auf Berlin-Trip. Ganz am Anfang tritt die junge Frau aus der U-Bahnstation am Kottbusser Tor in den anbrechenden Großstadtabend hinein, mit dem Rucksack auf dem Rücken, wie so viele junge Menschen, die täglich in Berlin landen.

Die Kamera filmt sie von weit oben, zoomt langsam von ihr weg, und schon da hat man das Gefühl, dass sie bald sehr isoliert sein wird und überall Gefahr lauert. Wenn sie später vorsichtig aus den Jalousien ihres Hostels lugt, das Auge ganz nah am Spalt, stellt sich der Eindruck ein, dass sie ein Monster beäugt, das draußen lauern könnte.

Clare, gespielt von Teresa Palmer, huscht mit ihren hellen Augen und langen braunen Haaren zunächst noch etwas schüchtern über die Gänge des Hostels, gelangt auf eine Party und trinkt mit anderen jungen Leuten aus aller Welt Wodka und Bier bis zum Morgengrauen.

Clare ist hergekommen, um Lebenserfahrung zu sammeln - und was sie zunächst bekommt, ist die gängige "Berlin Experience". Zu der gehört auch die romantische Begegnung. In diesem Fall mit einem Lehrer namens Andi (Max Riemelt).

Flucht ist unmöglich

Ein süßer Typ, der sie auf der Straße anspricht. Gebildet ist er, alte Schule. Ihre Hände berühren sich zum ersten Mal über einem Band mit Klimt-Gemälden. Sie verbringen eine Nacht zusammen, in seiner Wohnung, es ist sehr schön. Niemand kann dich hier hören, sagt er ihr, sie könne beim Sex so laut sein, wie sie wolle.

Am nächsten Morgen, Andi ist schon zum Unterricht gefahren, geht Teresa zur Wohnungstüre und will gehen. Aber die ist abgeschlossen, sie kommt nicht raus. Abends kommt Andi wieder. Sagt, er muss ihr wohl den falschen Schlüssel dagelassen haben. Der Typ ist nach wie vor reizend, man muss ihm einfach glauben.

Nachts gehen sie noch mal raus, in einen Club, dann wieder zu ihm. Aber am nächsten Morgen steht sie erneut vor einer versperrten Türe. Jetzt kapiert Clare: Sie ist eine Gefangene. Flucht ist unmöglich, das Zimmer liegt in einem verlassenen Häuserblock in einer verlassenen Gegend, die Fenster sind aus bruchsicherem Glas. Niemand kann dich hören, sagt Andi ihr erneut. Diesmal meint er ihre Hilfeschreie.

Keine klassische Opfer-Täter-Geschichte

Aber die australische Regisseurin Cate Shortland beutet in ihrer Verfilmung von Melanie Joostens Roman "Berlin Syndrom" das Verhältnis zwischen Clare und Andi nicht einfach als klassische Opfer-Täter-Geschichte aus.

Zunächst einmal sind beide Liebhaber von Bildern. Clare macht in Berlin viele Fotos mit ihrer Kamera, bei einem Trödler kauft sie alte Dias. Auch Andi hat Alben voller Bilder, vor allem von Exfreundinnen, auch Clare lässt er bald posieren.

Die Erinnerung an die DDR ist präsent

Aber was er versucht einzusperren und in ein Bild zu bannen, wird sich wehren. Während er Clare ablichtet, beginnt sie, Kickboxbewegungen zu machen. Später halluziniert er ihre Erscheinung, die sich vor ihm zu erheben scheint. Als hätte das Foto ein albtraumartiges Nachbild erzeugt, das ihn selbst zum Opfer macht.

Die Wohnung, in der Clare Monate verbringen wird, ist nicht einfach ein Folterkeller. Sie ist auch eine Dunkelkammer, in der Bilder gemacht, entwickelt, gesammelt, enthüllt werden.

Am Fenster der Wohnung wird die Australierin zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee sehen. Zu Weihnachten hat Andi Clare einen Roman geschenkt, "Austerlitz" von W.G. Sebald, in dem ein Architekt anhand seiner Fotosammlung seine Geschichte in den Wirren der europäischen Judenverfolgung rekonstruieren will.

Shortlands letzter, auch in Deutschland gedrehter Film "Lore" handelte davon, wie ein deutsches Mädchen nach Kriegsende feststellt, dass sein Vater KZ-Aufseher war. In "Berlin Syndrom" wird nun, wie bei Sebald, durch Bilder und Fotos etwas von der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufgedeckt.

Der Film spielt in der Gegenwart, aber die Erinnerung an die DDR ist präsent. Solange sie noch in Freiheit war, hat Clare DDR-Architektur fotografiert, Andi ist im alten Osten aufgewachsen. Riemelt spielt ihn nicht als offensichtliches Monster, sondern als Post-DDR-Gewächs, das unter der sanften Oberfläche einen gewaltigen Hau weg hat. Das "Berlin Syndrom" des Titels versteht Shortland vor allem als Stockholm-Syndrom.

Der Film ist eine Horrormetapher über das Berlin von heute, das junge Menschen verschluckt

Andis Wohnung symbolisiert das Leben hinter der Mauer. Aufgewachsen in einer Diktatur, die ihre Bürger eingesperrt hat, lehnt er die DDR als Unrechtstaat ab, kann aber offenbar selbst nicht anders, als andere einzusperren. Aber Clare entwickelt, gemäß dem Stockholm-Syndrom, stellenweise Sympathien für ihren Entführer.

Damit verwischt Shortland spannenderweise die Opferrolle der jungen Frau. Die Filmemacherin gestattet sich die moralische Freizügigkeit, den Schwarzen Peter Clare zuzuschieben.

Nach ihrer ersten, flüchtigen Begegnung hat sie Andi regelrecht gesucht und ist ihm aus freien Stücken in seine Wohnung gefolgt, anstatt, wie ursprünglich geplant, nach Dresden zu fahren. Und warum musste sie auch ein zweites Mal mit ihm nach Hause gehen, nachdem sie am ersten Tag nicht mehr aus seiner Wohnung rauskam?

Andis Zimmer ist auch eine Metapher für das heutige Berlin, in das man sich freiwillig begibt. Clare wollte die volle "Berlin Experience" und hat sie bekommen: Sie ist gekommen, und sie ist versackt.

Berlin Syndrome, Australien / Deutschland 2017 - Regie: Cate Shortland. Buch: Shortland, Shaun Grant, Melanie Joosten. Mit Teresa Palmer, Max Riemelt. MFA/Filmagentinnen, 116 Minuten.

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