Karl Ove Knausgårds Roman "Kämpfen":Vertrautheit des Bösen

Karl Ove Knausgård

Karl Ove Knausgård: Obwohl eigentlich ein gutaussehender Mann, präsentiert er sich gerne mit finsterem Blick, schütterem Bart und in Bögen wie Hörnern zurückgekämmtem Haar wie ein störrischer Schafbock.

(Foto: obs)

Der letzte Band von Karl Ove Knausgårds autobiografischem Romanprojekt erforscht das Böse als etwas zutiefst Vertrautes und möchte die Banalität der Welt abschaffen.

Von Burkhard Müller

Karl Ove Knausgård kämpft. Er kämpft um die Wahrhaftigkeit, die er zum Mittelpunkt seines Werks gemacht hat, aus dem allein es zu rechtfertigen ist.

Wahrhaftigkeit ist nicht identisch mit Wahrheit; sie ist nicht Resultat (das kann und sollte kurz sein), sondern ein Vorsatz, der sich als potenziell unendliche Bewegung verwirklicht. Sechs Bände und Tausende Seiten hat Knausgård nunmehr dafür aufgewandt; und seine zahlreiche Leserschaft hat es akzeptiert, dass es so und nicht anders sein muss.

Die Literatur ist voll von autobiografischen Schriften; aber selten fällt die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit so gering aus wie hier - es dauert, grob gesprochen, so lang zu lesen, wie Karl Ove das Bad putzt, wie Karl Ove braucht, um das Bad zu putzen.

Abkürzung verfälscht; denn sie müsste die wesentliche Qualität des Lebens verfehlen, nämlich dass es sich in Zeit vollzieht. Das gilt auch und gerade in seinen Wiederholungen.

Würde Knausgård exemplarisch nur in einem einzelnen Fall berichten, wie es aussieht, wenn seine drei kleinen Kinder sich mit Eis vollkleckern, und hinzufügen: So geht das immer - dann wäre gerade das wesentliche Merkmal des elterlichen Daseins nicht getroffen, nämlich die nervtötende Dauer.

Es zielt auf nichts Geringeres ab, als den Begriff des Banalen zu vernichten

Es haben sich schon Leute umgebracht, weil sie das ewige Aufknöpfen und Zuknöpfen der Kleidung nicht mehr ertrugen - nicht etwa das Auf- und Zuknöpfen, sondern, ohne die Gnade des Summarischen, beide Vorgänge je für sich in ihrer entsetzlichen Vollständigkeit.

Ihr standzuhalten, darin besteht Knausgårds ebenso heroisches wie humanes Unternehmen. Es zielt auf nichts Geringeres ab, als den Begriff des Banalen zu vernichten: Denn wären die ewig gleichförmigen Akte menschlicher Reproduktion wirklich, wie es heißt, banal, dann hätte das Leben, das überwiegend aus solchen Dingen besteht, keinen Sinn. Der Sinn des Lebens aber darf keinesfalls preisgegeben werden.

Nun also ist, nach "Sterben", "Lieben", "Spielen", "Leben" und "Träumen" der sechste und letzte Band erschienen: "Kämpfen". (In Norwegen ist er schon vor sechs Jahren herausgekommen.)

Die Kunst, von allen Dingen so zu sprechen, dass es nicht langweilig wird

Im Zeitraum, der hier dargestellt wird, vollzieht sich Knausgårds Durchbruch als Schriftsteller, er steigt fast über Nacht zur hochumstrittenen Berühmtheit auf, hat Scherereien mit Leuten, die ihr oft unschmeichelhaftes Porträt mit Klarnamen lesen müssen, und allen möglichen Ärger in der Familie.

Nicht allzu viel für 1300 Seiten, sollte man denken. Doch Knausgård beherrscht die Kunst, von allen Dingen so zu sprechen, dass es nicht langweilig wird. Besagte Badputzszene beginnt folgendermaßen:

"Ich nahm John (den kleinen Sohn) auf den Arm und trug ihn ins Badezimmer. Ich stellte ihn auf den Boden, griff nach dem Scheuerpulver, das auf dem Spiegel stand, und schüttete weißes Ajax-Pulver auf den Boden der Wanne, nahm den Schwamm, der unter dem Waschbecken steckte, und fing an, die weiße Emaille zu scheuern. Als ich das Wasser laufen ließ, wurde das Pulver nicht nur flüssig, sondern verfärbte sich auch gelb. Ich mochte gelb. Gelb auf Weiß, gelb auf grün, gelb auf blau. Ich mochte Zitronen, sowohl ihre Form wie ihre Farbe, und ich mochte die großen Rapsfelder, die sich mit ihrem intensiven Gelb im Frühjahr und Sommer in Schonen ausbreiteten, unter dem hohen, blauen Himmel, zwischen den grünen Feldern. Und ich mochte das weiße Ajax-Pulver, das gelb wurde, wenn es sich mit Wasser vermischte."

Auch bei den einfachen Verrichtungen kommt es auf die Wahrheit an

Das ist natürlich nur der Auftakt, als nächstes geht es den Haarsträhnen im Abfluss an den Kragen. Der Wahrhaftigkeit scheinen sich hier, anders als wenn er etwa über den Umgang mit den manisch-depressiven Schüben seiner Ehefrau Linda berichtet, nur geringe Widerstände in den Weg zu stellen.

Aber bei den einfachen Verrichtungen kommt es nicht weniger auf die Wahrheit an, als bei den großen beschämenden Geständnissen. Kein müdes Abwinken: ihr wisst doch alle, wie es ist, eine Badewanne zu schrubben; sondern es muss der Ort, wo das Scheuerpulver steht und wo der Schwamm steckt, beim Namen genannt werden, da auch der im Augenblick tätige Mensch daran nicht vorbeikommt.

Reklame findet überall statt, und jeder tut, als wäre sie unwichtig

Und es ist ein eigenes Gefühl, zu erleben, wie das weiße Pulver Marke Ajax, benässt, gelb wird. Speziell dieses letzte Detail geht Knausgård mit einer Furchtlosigkeit an, die sich erst auf den zweiten Blick offenbart: Denn es heißt indirekt, die Macht der Reklame einzugestehen, die uns was davon vorfabelt, dass sich hier die Kraft der Zitrone oder der Zauber eines Felds im Frühling entfalte. Wie kann Reklame funktionieren, wo doch jeder weiß, dass sie uns bloß was vormacht? Knausgårds Antwort: so.

Damit aber rührt er, so unscheinbar der Ort sein mag, wo es geschieht, an eine unausgesprochene Konvention der Gesellschaft. Sie besteht darin, dass zwischen wirklichen und unwirklichen Bereichen unterschieden wird, genauer gesagt, zwischen Dingen, deren Wirkung man anerkennt, und solchen, deren Wirkung man auf symbolische Bezirke eingrenzt, wo sie angeblich keinen Schaden anrichten.

Reklame findet überall statt, und jeder tut, als wäre sie unwichtig, als hätte sie keinerlei Einfluss auf sein Fühlen und Handeln. Aber das stimmt nicht. Damit ist der Übergang angebahnt vom Scheuerpulver zur Propaganda der Nazis, die angeblich auch niemand ernst genommen hat, von der Werbung zur Gewalt.

Statt sich über die Gewaltexzesse in Computerspielen und Actionfilmen aufzuregen, merkt Knausgård an, was für eine erstaunliche Leistung der Gesellschaft es sei, dass sie solche Gewalt wie einen Flaschengeist ins Vakuum der virtuellen Welten bannt, eine Leistung, die mit geradezu schizophrener Energie aufrecht erhalten wird, da sie nicht die Ebene der Bewusstheit erreichen darf.

So nimmt die Fassungslosigkeit, die Knausgård wie alle seine Landsleute angesichts des Anschlags von Utøya empfindet, eine verblüffende Wendung: Vielleicht war der Massenmörder Anders Breivik, hinter all seiner Verblendung, letztlich bloß ein Mensch, der diese Schizophrenie nicht mehr aushielt und infolgedessen nicht so sehr etwas tat, als dass er jenem Sog erlag, der die Druckverhältnisse der beiden getrennten Räume ausglich.

Pharisäischer, als es Gesellschaften im allgemeinen zu sein pflegen

Auf solchen Wegen gelangt das Projekt der Wahrhaftigkeit zu einer Originalität des Denkens und Fühlens, die Knausgård so wenig anstrebt wie literarischen Stil, die sich aber dank seiner Beharrlichkeit wie von selbst ergibt.

Immer wieder passiert es, dass die bequem vorausgesetzten Grenzlinien bei genauer Betrachtung zu verschwinden beginnen und ein weit komplexeres und ambivalenteres Bild entsteht.

Die norwegische und die schwedische Gesellschaft, zwischen denen Knausgård pendelt (er lebt heute in Schweden), sind offenbar noch pharisäischer, als es Gesellschaften im allgemeinen zu sein pflegen. Der Pharisäer scheidet scharf zwischen sich und den anderen, zwischen gut und böse - eine Scheidung, durch die sich vorab das Böse ins Gute einschreibt.

Verschiedene Bedeutungen des Wortes "gut"

Auch Knausgård selbst möchte zu den anständigen Menschen gehören, etwas, das in Skandinavien niemandem erlassen wird, und verzweifelt daran, wenn er sich die wütenden Attacken der von ihm porträtierten Familienmitglieder und Weggenossen anhören muss.

Doch eben in seiner Zerknirschung wird spürbar, dass es jenseits solchen Anstands noch etwas anderes gibt. In geradezu rührender Weise ruft er aus (es geht um seinen Vater): "Es war kein guter Roman, aber er hatte auch kein gutes Leben geführt."

Hier gehen verschiedene Bedeutungen des Wortes "gut" durcheinander: Das Leben des Vaters, der als Alkoholiker eines hässlichen Todes starb, war ein missratenes: es ist ihm nicht gut gegangen. Das Buch jedoch, das es festhält, hat in seiner Schonungslosigkeit gegen das Gute als moralisches Prinzip verstoßen. Dass es gerade darin ein gutes Buch geworden sein könnte, nämlich im Gegensatz zu einem schlechten, scheint seinem Verfasser - und das ist gewiss sein sympathischster Zug - gar nicht einzufallen.

Ähnlichkeiten mit dem Lebenslauf Hitlers

Diejenige historische Person, auf deren unbedingte Ausgrenzung sich alle geeinigt haben, ist Adolf Hitler. Knausgård stellt darum gerade ihn ins Zentrum, ja er hat sein autobiografisches Werk genauso benannt wie der andere: "Min Kamp" - "Mein Kampf", wohlwissend, wie angreifbar er sich damit macht. (Die deutsche Ausgabe hat, aus nachvollziehbaren Gründen, auf diesen Gesamttitel verzichtet und benennt, anders als im Norwegischen, jeden Band für sich.)

Über Hunderte von Seiten setzt er sich mit diesem Buch und mit den Memoiren von Hitlers Jugendfreund Kubizek auseinander. Dabei betont er nicht nur die Ähnlichkeiten der Lebensläufe: Sowohl Hitler als auch Knausgård hatten einen gewalttätigen, früh aus dem Familienleben ausscheidenden Vater und liebten ihre Mutter desto mehr, beide waren in ihren frühen Jahren als linkische Außenseiter zahlreichen Demütigungen ausgesetzt und kompensierten durch Größenphantasien.

Er lenkt das Augenmerk vielmehr darauf, wie gewöhnlich all diese Erfahrungen und Empfindungen waren, wie viel schlechthin Zeittypisches sie enthalten; wie wenig man von dem verbummelten 25-Jährigen auf den späteren Führer hätte schließen können.

Leseprobe

Knausgård wendet sich entschieden gegen Hitlers Biografen Ian Kershaw, der jede noch so belanglose Episode aus dieser Frühzeit ins dämonische Licht der Prophezeiung taucht. Dem hält Knausgård entgegen: "Erst seine Unschuld verleiht seiner Schuld Gewicht."

Niemand soll glauben, dass er, kämen die richtigen Umstände zusammen, nicht auch zum Hitler oder mindestens zum treuen Gefolgsmann werden könnte. Wenn Knausgård sagt, Hitler sei der König des deutschen Gefühls gewesen, dann schwingt darin nicht der leiseste Hauch von Ironie; Ironie wie auch Humor sind diesem Autor generell fremd, sie wären dem Ernst des Projekts nicht angemessen.

Völlig uneitel

Breiten Raum, ungefähr die Hälfte, nehmen in diesem letzten Band Lektüren ein, außer "Mein Kampf" auch Ernst Jünger, Hermann Broch, Peter Handke (überhaupt viele deutsche Autoren), der Prophet Hesekiel, Witold Gombrowicz, Leonardo da Vinci und etliche andere.

Alles, was Knausgård zu ihnen zu sagen hat, ist lesens- und bedenkenswert. Über viele Seiten hinweg beschäftigt er sich mit Paul Celans Gedicht "Engführung"; in diesem Lyriker entdeckt er den gleichen Willen zur Wahrhaftigkeit, den auch er selbst besitzt, wenngleich Celan zum völlig entgegengesetzten Mittel des Schweigens griff. Knausgårds uferlose Rede über Celans Schweigen mag man paradox finden, vielleicht sogar komisch; etwas Ergreifendes hat sie dennoch.

Knausgård, der von Haus aus kaum Selbstwertgefühl besaß, konstituiert sein Ich völlig über das Schreiben; doch erstaunlicherweise ist dieser Autor, der nur einen einzigen Gegenstand kennt, sich selbst, dabei völlig uneitel geblieben.

Er besteht unübersehbar auf sich

Das setzt sich fort bis in sein physisches Erscheinungsbild: Obwohl eigentlich ein gutaussehender Mann, präsentiert er sich auf dem Foto des Klappentexts mit finsterem Blick, schütterem Bart und in Bögen wie Hörnern zurückgekämmtem Haar wie ein störrischer Schafbock.

Er besteht unübersehbar auf sich, aber nicht darauf, dass er was Besseres oder gar ein Guter wäre. Es kommt ihm darauf an, dass Mensch zu sein zwar etwas sehr Allgemeines bedeutet, jedoch immer nur im Einzelfall realisiert und gezeigt werden kann; und da hat er leider nur einen einzigen, seinen eigenen, zur Verfügung.

Es gibt nichts Kleines auf der Welt

Groß ist die Versuchung, am Schluss eines solch gigantischen Werks Ausschau nach einer Quintessenz zu halten. Dazu ist es natürlich viel zu facettenreich. Aber zwei Sätze verdienen es vielleicht dennoch, dass sie sich einprägen.

Erstens: "Wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines ,Sie', als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können, es wird in Gestalt eines ,Wir' kommen." Das ist es, was man aus "Mein Kampf", und zwar beiden Büchern dieses Namens, in sozialer Hinsicht lernen sollte.

Zweitens, im Umkreis des Individuums: "Die Welt ist ebenso geheimnisvoll wie ein Gedicht, aber das vergessen wir so gut wie immer." Darum kann es zur Herausforderung werden, das Schnullerhafte an einem Schnuller zu ergründen, wozu Knausgård fast eine ganze Seite braucht. Es gibt nichts Kleines auf der Welt.

Karl Ove Knausgård: Kämpfen. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. Luchterhand Literaturverlag, München 2017. 1280 Seiten, 29 Euro. E-Book 23,99 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: