Pop:Das Klassensprechersyndrom

Die Toten Hosen auf ´Magical Mystery Tour"

Sänger Campino ist die Stimme der Band Die Toten Hosen, auch bei Konzerten in Privatwohnungen mit gemeinsamem Besäufnis auf der "Magic Mystery Tour".

(Foto: Gregor Fischer/dpa)

Die einen feiern ihn, die anderen sind von seinem Mitteilungsbedürfnis genervt: Was treibt Campino, den Sänger der "Toten Hosen", an? Unterwegs mit einem, der einfach nicht an sich halten kann.

Von Harald Hordych

Das Gespräch ist zu Ende. Aber es geht weiter. Andreas Frege, genannt Campino, erhebt sich von seinem Stuhl im Wohnzimmer einer Münchner Wohnung. In der Küche warten die Mitglieder der Punk-Band Die Toten Hosen auf ihn. Campino bedankt sich, aber er geht nicht. Er bleibt vor der Tür stehen und fängt an, über Adele zu sprechen, die er klasse findet. Er erzählt von ihrem Konzert in Verona. Er redet über die wenigen Künstler, die nicht nur über große künstlerische, sondern auch große menschliche Qualitäten verfügen. Und über Fortuna Düsseldorf redet er natürlich auch.

Eine halbe Stunde später ruft jemand aus der Küche: Campino!

Ist dies das Geheimnis von Campino, 54, dem gefeierten und wegen seines Mitteilungsbedürfnisses auch gefürchteten Leadsängers der Toten Hosen? Dass er einfach ein Mensch ist, der wahrhaftig kindlichen Spaß hat, wenn er mit anderen Menschen redet? Und dass er eben lauter wird, wenn ihm wichtig ist, wovon er spricht? Zwei Mal ist er aufgesprungen und redend hin und her gelaufen. Das war wie auf der Bühne. Da rennt und hüpft er auch herum, als könnte ihn nichts an seinem Platz halten. Alles muss raus!

Der Tod hat die Hosen erreicht, die Energie der Band bremst das nicht: Trauer mit Power

So ist er auch bei der zehnten Zugabe im Hosenkonzert, wenn er dem bereits durchdrehenden Publikum zuruft: "Hier tanzen noch nicht alle. Noch einmal! Tanzt, nicht nur für euch selbst, sondern auch für den Nachbarn." Dann ist dieser Radaubruder nicht zu bremsen, auch nicht von gescheiterten Liebesgeschichten und selbst nicht vom Tod, der auf der neuen CD "Laune der Natur" eine große Rolle spielt. Die Hosen, deren Symbol immer der Totenkopf war, als tabuisiertes Schockmotiv fürs Bürgertum, hat der Tod eingeholt, weil der langjährige Schlagzeuger Wölli voriges Jahr und ihr Manager Jochen Hülder vor zwei Jahren gestorben sind. Nun ist die Platte voller Abschiede: von der Liebe, der Jugend, vom Leben. Aber die Energie, die von dieser Band und vor allem von ihrem Leadsänger ausgeht, wird das nicht bremsen, Trauer mit Power, 1,1 Millionen Menschen wollten die jüngste Tournee sehen. Die Hosen sind die erfolgreichste Live-Band Deutschlands und für viele auch die beste. Die Stimme der Band ist seit 35 Jahren Campino.

Es gab mal eine Zeit, da war dieser blonde Menschenfänger in mehr Talksshows als Peter Altmaier und Claudia Roth zusammen. Und jetzt präsentiert sich Campino wieder auf allen Kanälen. Auch weil er bei der Echo-Verleihung ein paar Sätze rausgehauen hat, die als Reaktion auf die Kritik des Satirikers Jan Böhmermann zur Mittelmäßigkeit der Echo-Preisgekrönten verstanden wurden ("Böhmermannsches Zeitgeistgeplapper"). Und die mit den Worten "Lieber uncool sein als ein cooles Arschloch" endeten. "Böhmermann habe ich nicht gemeint", erklärt Campino. "Von der Echokritik wusste ich nichts. Das war eine Reaktion auf die Tatsache, dass wenn man sich heute sozial engagiert, sehr schnell dafür angeschossen wird, weil man sich auf Kosten der Hilfsbedürftigen profilieren will!"

Da ist wieder der aufrechte Ton der Empörung, den ihm keiner so leicht nachmacht, leidenschaftlich und entschlossen. Mit dem Gesicht, das man von seinen Auftritten kennt: nicht das breite Charmebolzen-Lachen, wenn er zur Tür reinkommt. Nein, das zweite Campino-Gesicht: die zusammengezogenen Augenbrauen, der grimmige Blick, einer der rausschreit, was er zu sagen hat. Wenn man das uncoole Modewort "authentisch" heranzieht, um Campinos Ausstrahlung und seinen Erfolg zu erklären, dann darf man feststellen, dass Campino manchmal auch authentischen Quatsch redet.

Aber er hat auch kein Problem damit, das zugegeben. Einmal rief er bei einem Konzert, dass ein Dieb immer ein Dieb bleibt, auch wenn er einmal etwas Gutes getan hat. Er meinte den von ihm verachteten FC Bayern München, der anderen Vereinen die Spieler wegkauft. Als man ihm darauf hinweist, dass ein Kämpfer für die Underdogs wie er für Resozialisierung von Kriminellen eintreten müsse, sagt er lachend: "Stimmt, das war Unsinn. Weiß gar nicht, wie mir das rausrutschen konnte."

Vielleicht ist Andreas Frege, Sohn eines Richters aus Mettmann-Metzkausen bei Düsseldorf, manchmal mit der Lebensaufgabe überfordert, immer die einzige Stimme der Hosen sein zu müssen und zu glauben, auch als Stimme aller Zukurzgekommenen aufzutreten. Klassensprechersyndrom könnte man das nennen. "Ich habe so viel Gutes erlebt. Da habe ich das Bedürfnis, etwas zurückzugeben, wenn ich es kann." Tatsächlich räumt Campino ein, dass er in den Neunzigern in zu viele Talkshows gegangen sei. "Die suchten immer diesen Paradiesvogel in der Sendung, um irgendeine Talkrunde aufzufrischen, und ich wollte meine Ideen rüberbringen. Aber irgendwann war das nur noch ein Ritual, bei dem die Leute immer die gleichen Sachen von mir hören wollten."

Und immer wieder die selben Lieder

Da ging es den Fernsehleuten, wie es den Fans der Hosen bis heute geht, auch die wollen das hören, was der Song "Altes Fieber" auf den Punkt bringt: Und immer wieder die selben Lieder. Außerdem: "Hier kommt Alex", "Steh auf", "Liebeslied", "Auswärtsspiel" und die Saufhymne "Eisgekühlter Bommerlunder". Diese Songs werden neben neuen Titeln und Punkklassikern im Kölner Gloria gespielt, wo die Hosen ein paar Tage später vor 1000 Zuhörern ihre neue CD vorstellen. Die Tickets waren in 30 Sekunden weg.

Eineinhalb Stunden vor Konzertbeginn stehen auf der kleinen Apostelnstraße in Köln überall Leute, die schwarze Klamotten mit Totenköpfen tragen, wie es sich für Hosen-Fans gehört. Dr. Maria Lang, 38, hat ihre Promotion in Literaturwissenschaft über "Chaos und Ordnung in Novellen des bürgerlichen Realismus" geschrieben. Thomas Hermerschmidt, 39, ist Wasserwirtschaftsökonom. Die beiden reisen seit 20 Jahren, erst getrennt, dann gemeinsam, Hosen-Konzerten hinterher. "Die Musik war immer wahnsinnig energiegeladen", sagt Hermerschmidt. Campino? "Eine Rampensau. Mit ganz natürlichem Auftreten. Die Hosen sind sich treu geblieben und immer noch eine Gemeinschaft."

Campino ist die Stimme und der Körper der Spaßgymnastik. Mit rauschhafter Spielfreude

Pop: Die Nähe zu den Fans betonen Campino und seine Mitstreiter gern; als Sponsoren halfen sie Fortuna Düsseldorf.

Die Nähe zu den Fans betonen Campino und seine Mitstreiter gern; als Sponsoren halfen sie Fortuna Düsseldorf.

(Foto: imago)

Dann geht's los: Campino trägt im Gloria zunächst ein Hemd über den Tattoos, das auch anderen mittelalten Männern im Büro gut stehen würde. Aber die Frage, ob die Kleidung etwas über die Wirkung von Punkmusik aussagt, erübrigt sich nach zehn Sekunden. Zwei Stunden lang rast ein Orkan durch diesen Saal. Der Punk der Hosen ist melodischer Lärm zum Mitgrölen und Mithopsen, gegeneinander springen und anrempeln, es gibt Balladen, die berühren, aber vielles wird gnadenlos durchgejagt, mit Refrains, die aus zwei Wörtern wie "Steh auf" bestehen oder am allerbesten einfach "ohohooooooo" lauten. Das Konzert ist wie ein Zug, der ungebremst gegen eine Mauer rast. Als zehnte Zugabe wird fünf Mal hintereinander "Azzurro" von Adriano Celentano gespielt. Mehr Stimmungsmusik geht nicht.

Campino ist die Stimme dieser rhythmischen Spaßgymnastik. Und der Körper. Er hüpft, springt, wirft die Arme weg, als wollte er sie nie wieder haben, er rast von links nach rechts, von rechts nach links,mit einer rauschhaften Spielfreude. Und er sagt zwischen den Songs, was ihm gerade durch den Kopf geht. Eishockey-WM, Bundesliga Köln gegen Bremen. Und: "Das ist unser erster Auftritt mit den neuen Songs. Wenn wir Fehler machen, nehmt sie uns nicht übel." Campino redet mit den Leuten, ungekünstelt, beseelt, von dem was er gerade loswerden will, aber nie von oben herab, kaum je plattitüdenhaft, vielleicht mal etwas undifferenziert. Alles muss raus! Deutsch haben sie schon im Ratinger Hof in Düsseldorf gesungen, wo hierzulande der Punk seit 1978 erfunden wurde. Sie wollten verstanden werden. Es gibt kaum einen Liebessong der Hosen, der gut ausgeht. Ihre Songs handeln fast immer vom Weitermachen und von der Lust, die das Leben trotz aller Probleme machen kann. Verschwende deine Zeit.

Die frühen Hosen-Konzerte waren aus dem Ruder laufende Happenings: Die Musiker wurden bespuckt, alle bewarfen sich mit Bierbechern, irgendwann lagen sich Band und Publikum schwitzend und tanzend in den Armen. Sein ältester Bruder John Frege hat mal gesagt, dass Campino die Band als Großfamilie braucht, weil er das jüngste von sechs Kindern ist. Campino gibt zu, dass er sehr harmoniebedürftig ist. Vor dem Wehrdienst schaffte er es nicht zu verweigern, weil er es nicht übers Herz brachte, seinen Vater, den Oberstleutnant der Reserve, zu verletzen.

"Die Energie, die wir aus diesen Auftritten ziehen, ist immens"

In München, in der Wohnung seiner PR-Agentin, zeigt Campino ein Video vom jüngsten Auftritt der Hosen: eines von zwölf Wohnzimmerkonzerten, welche die Band immer vor ihrer neuen Tournee veranstalten. Auf dem Smartphone laufen Bilder aus Poznan (Posen). Ein Zimmer, in dem sie zu sechst auf Matratzen übernachten. Nach dem Konzert in der Wohnung in einer Plattenbau-Siedlung machen Wodka-Flaschen die Runde. 7000 Bewerbungen von Alaska bis Uruguay lagen vor. Was treibt 50-Jährige dazu, sich vor 50 jungen Polen zwei Stunden ohne Gage zu verausgaben? "Die Energie, die wir aus diesen Auftritten ziehen, ist immens. Es macht unheimlich Spaß herauszufinden, dass es immer noch genauso brennt. Du brauchst diese jungen Leute immer wieder, um den Hexenkessel zu veranstalten. Nur hinterher ist es anstrengender als beim Konzert, weil du nicht einfach gehen kannst, da wird noch zwei, drei Stunden gefeiert."

Energie, Hexenkessel, Feiern, Wildheit, irgendwann hören Männer auf, so zu reden, meistens nach der abgeschlossenen Berufausausbildung. Die Hosen wollen das weiter leben, jung bleiben, zu viel trinken, zu wenig schlafen. Seine Erklärung für den Zusammenhalt reicht weit zurück. Sie waren schon Freunde, bevor sie eine Band gründeten und dann gemeinsam anfingen, die Instrumente zu lernen.

Den Tote-Hosen-Kosmos betonen sie sehr. Auch durch ein gemeinsames Grabfeld auf dem Düsseldorfer Südfriedhof. 17 Gräber gibt es, drei Mitstreiter liegen schon dort. "Aus einer lustigen Idee wird plötzlich Ernst", sagt Campino. Wie hätte er es empfunden, wenn Manager Hülder, der als sechstes Bandmitglied galt, sich dort nicht hätte begraben lassen? Hülder, der die Jungs, als alles anfing, in seinem Käfer zu den Gigs in der Provinz gefahren hatte. Campino fände "es unanständig, unser gemeinsames Versprechen zu brechen". Und wenn die Partner der Gestorbenen nicht im Tod von ihrem Liebsten getrennt sein wollen? "Dann sind sie auf dem Grabfeld herzlich willkommen. Aber es muss klar sein, dass in der vorderen Reihe die Band liegt. In Bühnenformation: ich in der Mitte, Kuddel links von mir, dahinter Andi, rechts Breiti."

"Niemand von uns will heutzutage noch Punk sein. Seit 1985 will ich das nicht mehr."

Sie wollen immer ganz anders sein. Auch das erklärt die durch alle Schichten der Republik reichende Popularität der Hosen. Diese Anerkennung verträgt sich aber für viele nicht mehr mit der Idee des Punk-Außenseitertums. Da seufzt Campino und schüttelt den Kopf. Die Ist-Punk-nur-noch-Pose?-Frage: "Was soll ich dazu sagen? Niemand von uns will heutzutage noch Punk sein. Schon seit 1985 will ich das nicht mehr. Es geht doch nicht um dieses Begriff, um dieses Label. Es geht doch um einen Lebensgeist." Für Campino haben Punks und Hippies, jeder auf seine Weise, versucht, sich den Obrigkeiten entgegenzustellen. Aber 1982 waren die Fronten noch klar: Nato-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, der CDU-Übervater Kohl, Wiederaufbereitungsanlagen. "Das hat das Leben einfacher gemacht."

Alles vorbei, Angela Merkel hat die AKWs abgeschaltet und einer Million Flüchtlingen die Tür geöffnet. Gegen welche CDU-Tore soll die Hosen-Familie da noch anstürmen? Die Hosen wollen längst nicht mehr spalten. Sie wollen zusammenbringen. "Ich bin mit Frau Merkel sehr zufrieden", sagt Campino recht grandseigneurhaft. "Speziell außenpolitisch, weil ich zum ersten Mal erlebe, dass Deutschland als Stabilisator für Europa wahrgenommen wird. Das ist eine einmalige Rolle. Man kann erst einmal ein Stück weit zufrieden sein, wie diese Frau es schafft, das alles zu verhandeln."

Schlusswort? Nein. Kurz bevor er dann endgültig geht, sagt Campino: "Wir haben bei Feuerwehrleuten gespielt, bei St.-Pauli-Fans, bei Spießern. Aber weißt du, wo wir noch nie gespielt haben? Im Altersheim. Das ist eine super Idee!"

Dann dreht er sich in den Flur und ruft: "Schreibt das mal einer auf? Altersheim!"

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