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Weiße Masken. Im Laufe der zwölfstündigen Theaterinszenierung bemalen sich Darsteller.

© Bajazzo Road Opera Sebastian Mayer

„Bajazzo Road Opera“ im Ku’damm Karree: Das Paradox des Jetzt

Regisseur Ludger Engels und das Solistenensemble Kaleidoskop machen aus der Opera „Pagliacci“ eine zwölfstündige Performance, in der die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmt.

Was ist das Jetzt? How long is now? Von unendlicher Dauer und gleichzeitig unfassbar, konfrontiert uns das Jetzt mit einem Paradox. Diesem versucht Regisseur Ludger Engels gemeinsam mit den Streichern des Berliner Solistenensembles Kaleidoskop und dem Musiker Thomas Mahmoud in seiner „Bajazzo Road Opera“ auf den Grund zu gehen.

Angelehnt ist die Performance an Ruggero Leoncavallos veristische Oper „Pagliacci“, hierzulande bekannt als „Der Bajazzo“, aus dem Jahr 1892. In deren Verlauf verliert eine Gruppe von Schauspielern zusehends die Fähigkeit zwischen gelebter Realität und gespielter Fiktion zu unterscheiden. Zum ersten Mal in der Operngeschichte prallten Kunst und Alltag aufeinander. Vor allem an dieser bahnbrechenden Idee Leoncavallos bedient sich Engels’ Inszenierung.

Der Einbruch des Alltags macht sich zunächst an der Länge bemerkbar: Geschlagene zwölf Stunden lang übernehmen Musiker die Rollen musizierender Schauspieler. Aber nicht nur die Zeitspanne der Aufführung – 8 Uhr abends bis 8 Uhr morgens – ist ungewöhnlich, auch ihr Aufführungsort: Als zentrale Bühne dient ein futuristisches Loft im Inneren des Ku’damm Karrees. Einzelne Happenings ereignen sich später in der verwahrlosten Passage des Erdgeschosses. Rolltreppen fahren auf und ab, auf einer Terrasse befindet sich ein von Satellitenschüsseln umzingeltes Zelt. Scheinwerferlicht wirft die flirrenden Schatten der Saiteninstrumente in einen weißen Saal. Schon durch das Bühnenbild dieses modernen „Bajazzo“ verwischt die Grenze zwischen Wirklichkeit und künstlerischer Fiktion.

Kammermusik, die in elektroakustische Gefilde ausfranst

Der Abend beginnt im relativ konventionellen Rahmen avantgardistischer Kammermusik, die klanglich auch mal in elektroakustische Gefilde ausfranst. Schon bald verlassen einzelne Musikerinnen den Saal um an unterschiedlichen Ecken des Komplexes recht eigenwillige Soli zu geben. Die Violinistin Rebecca Beyer sucht zum Beispiel eine verlassene Kneipe auf, um aus Cut-up-Collagen von „Bajazzo“-Partituren zu spielen, die an den vergilbten Wänden hängen. Ein vorbeikommender Passant will wissen, ob das „Karree-Eck“ wieder offen sei. „Hier habe ich früher öfter gesessen ...“, lässt er verlauten und zieht weiter durch das geisterhafte Innere der Passage.

Mit der „Bajazzo Road Opera“ rütteln die Darstellerinnen und Darsteller gehörig am angeblich zeitlosen Antagonismus zwischen der erlebten Zeit der Kunst und der ertragenen Zeit des Alltags – und eröffnen ganz nebenbei einen Blick auf ein beinahe verschwundenes West-Berlin. (Installation: 7.5., 8-20 Uhr, Eintritt frei).

Frederic Jage-Bowler

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