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Michael Sailstorfer im Haus am Waldsee: Der Umdeuter von Wirklichkeit

Wie ein Atelier zur Kegelbahn wird: Das Haus am Waldsee zeigt eine Retrospektive des Berliner Bildhauers Michael Sailstorfer.

Wer das Haus am Waldsee besucht, jene zur Galerie umgewandelte Villa im englischen Landhausstil, der stößt im Vorgarten am Rande des Kiesweges auf eine Holzhütte, die wahrhaftig fehl am Platze scheint. Oder etwa nicht? Der Bildhauer Michael Sailstorfer hat sie hier aufgestellt, ein Bayer in Berlin. Die Hütte hat etwas vom Gruß aus der Heimat. „Wohnen mit Verkehrsanbindung (Großkatzbach)“ lautet der Titel des 2001 entstandenen Werks: ein umgebautes Wartehäuschen mit Bett, Klo, Kochstelle, Tisch, Stuhl und Regal. Sailstorfer hat gleich mehrere überflüssig gewordene Exemplare daheim eingesammelt und umfunktioniert – nicht wirklich zur Wohnung, sondern zur Skulptur, die ländliche Lebensumstände humorvoll und zugleich melancholisch reflektiert.

Der Absolvent der Münchner Akademie und erfolgreichste Meisterschüler von Olaf Metzel ist längst Städter geworden und lebt seit 2005 in Berlin. Das hat sich auch in seiner Kunst niedergeschlagen, die rauer geworden ist, minimalistischer, doch nicht weniger poetisch. Das Haus am Waldsee, das sich als Forum Berliner Künstler versteht, hat dem charmanten Umdeuter von Wirklichkeit zur Berlin Art Week eine Retrospektive eingerichtet. Sie lautet „B-Seite“ in Anspielung auf die zweite Schallplattenseite mit Stücken, die es eher selten zum Hit schaffen. Bei Sailstorfer sind es Werke, die entweder direkt an Sammler verkauft wurden oder sich noch beim Galeristen befinden und nur selten präsentiert wurden. In die Charts gelangten sie bisher noch nicht. Tatsächlich sind die knapp dreißig gezeigten Arbeiten sehr viel weniger eingängig als der aufblasbare Panzer oder die sich an der Museumswand in permanenter Drehung abreibenden Autoreifen, die in den letzten Jahren immer wieder von Sailstorfer zu sehen waren.

Michael Sailstorfer sieht die verborgene Seite

Dafür lernt man nun einen Künstler kennen, der den Vergänglichkeiten des Lebens seine eigene Strategie der Erinnerung entgegenstemmt. So kaufte der 35-Jährige nicht nur Wartehäuschen auf, sondern dazu einen ausrangierten Schulbus, den Kinder mit Landschaften bemalt hatten. Er ließ die Gemälde aussägen, arrangierte sie in metallenen Schubleisten wie in einem Bilderdepot und nennt das Ensemble kokett „Museum Kässbohrer“. Überhaupt haben es ihm offensichtlich Busse angetan, vermutlich musste er als Bub in Niederbayern lange Strecken damit fahren. Man erahnt die erwachenden Sehnsüchte, das Verlangen nach der weiten Welt. In Anlehnung an die beiden Hauptfiguren in Jack Kerouacs Roman „On the Road“ hat Sailstorfer die aus Elementen eines altertümlichen Gelenkbusses zusammengebaute Skulptur „Dean & Marylou“ genannt. Rosa und rote Herzen kleben daran.

Wie die Surrealisten sieht Sailstorfer in den Gegebenheiten der Wirklichkeit immer auch noch das Andere, die verborgene Seite. Als bodenständiger Praktiker verfeinert er jedoch nicht, sondern entwickelt er eine handfeste Vision. So entstand aus dem Maleratelier der Münchner Kunstakademie eine Kegelbahn, die getrocknete Farbe auf den Bodenplanken ist immer noch zu sehen. Statt dass Staffeleien darauf stehen, rollen jetzt Kugeln darüber, die über ausrangierte Fahrradständer, die vermutlich ebenfalls noch von der Akademie stammen, zu den Keglern zurückkehren.

Auseinandersetzung mit den Großen der Kunstgeschichte

Und noch etwas lässt sich in der Ausstellung studieren: Sailstorfers beständige Auseinandersetzung mit den Großen der Kunstgeschichte. Der Bildhauer macht dies nie explizit, eher mittelbar. Am deutlichsten wurde das in den aufgeblasenen Lkw-Reifen, die sich wie finstere Wolken unter die Decke quetschen und zugleich an Andy Warhols heliumgefüllte Silberballons erinnern. Auch im Haus am Waldsee gibt es ein Reifenknäuel, das sich mithilfe eines Motors sachte im Kreise dreht. Von der Seite angestrahlt, wirkt der Schattenriss an der Wand tatsächlich wie dunkles Gewölk. Die aus einer lapidaren Holzleiste und einem Duftzerstäuber bestehende Skulptur „Andy Warhol trägt Parfüm“ aber nennt den Pop-Artisten erstmals als direkten Bezug. Der zierliche, eher unscheinbare Künstler liebte Parfüm, um sich Präsenz zu verschaffen.

Auch Bruce Nauman und Brancusi erweist der junge Bildhauer seine Reverenz. So ließ er seinen Ellenbogen mehrfach in bunt eingefärbter Keramik abformen und präsentiert sie in einer hölzernen Stellage. Naumans Köpfe aus Wachs kommen prompt in den Sinn, von deren Brutalität Sailstorfer allerdings himmelweit entfernt ist. Brancusi scheint in der an einer Kette baumelnden Fischskulptur auf, die eine ähnliche handschmeichlerische Glätte besitzt wie die Werke des nach Paris emigrierten Rumänen. Sailstorfer formte seinen Fisch allerdings aus Fiberglas. Möglich, dass der Künstler ihn noch schwimmen lassen will wie andere Klassiker der Skulptur des 20. Jahrhundert, die er dann unter Wasser fotografierte. Ein Betonfuß hält ihn jedenfalls fest.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 9. 11.; Di bis So 11–18 Uhr.

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