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  3. Ich bin dann mal weg: Bei den Ameisen gibt es die beste aller Welten

Kultur Eskapismus

Bei den Ameisen gibt’s keine alten, bösen Männer

Redakteur Feuilleton
Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit: Unter Riesenameisen (Paraponera clavata) Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit: Unter Riesenameisen (Paraponera clavata)
Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit: Unter Riesenameisen (Paraponera clavata)
Quelle: AFP/Getty Images
Manchmal braucht man Urlaub von allem. Dann reicht wegfahren nicht. Unsere Sommerserie lobt die Wonnen des Eskapismus. Und unser Autor kennt die zuverlässigen Fluchthelfer persönlich – Ameisen.

Weiß auch die Ameise, was Eskapismus heißt? Kennt sie den Drang, dem Alltag zu entfliehen? Will sie manchmal weg? Um solche Fragen zu ergründen, werfe ich ein Taschentuch auf einen Waldameisenhügel in der größten Kolonie, die ich jemals gesehen habe, an der Ostsee auf dem Darß, warte, bis sich der Zellstoff durch die Säure rosig färbt, und lege ihn dann im Berliner Forst auf eine schmale Waldameisenstraße.

Für die Tiere ist das Stress, die Kriegserklärung einer fremden Großmacht. Sie rennen in alle Richtungen davon. Aber sie kommen wieder. Nicht nur sie, auch zahlreiche ihrer Kolleginnen kümmern sich um die Störung im System. Sie alle tun, was die Gesellschaft von ihnen verlangt. Soviel zur Weltflucht unter Ameisen.

Edward O. Wilson, der früher in Harvard lehrende Soziobiologe, hat einmal geschrieben: „Es scheint, dass der Sozialismus unter ganz bestimmten Umständen doch funktioniert. Karl Marx hatte es nur nicht mit der richtigen Art zu tun.“ Der Mensch war für den Herrn der Ameisen immer die falsche Art. Ein eigensinniges Wesen, das mit einem viel zu großen Hirn gestraft ist und so von Natur aus zur Kultur neigt.

Wenn die Küche in Besitz genommen wird

Wer waren die Gründerväter der Kultur? Die Eskapisten. Dass der Mensch sich heute zurück zur Natur träumt und dorthin flüchtet, wo er mal herkam, zu den Bäumen und den Tieren, kann nichts anderes als ein später neuronaler Kurzschluss zwischen Aufklärung und Industriemoderne sein. Mich zieht es zu den Ameisen.

Es fing in einem Sommer an. Ich kehrte aus dem Urlaub heim und fand die Küche von der Schwarzen Wegameise infrastrukturell bestens erschlossen vor. Die Straßen führten sinnvoll zu den Sehenswürdigkeiten, kreuzten sich strategisch schlüssig und waren so angelegt, dass keine Staus entstanden.

Wie ich die Ameisen ins Herz schloss

Weil meine Familie dafür nichts übrighatte, stellte ich an allen Knotenpunkten grüne Plastikfallen auf. Ich sah, wie sich die ersten Tiere opferten, die nächsten ihre Schwestern warnten und die übernächsten Posten aufstellten, um den Verkehr weiträumig umzuleiten. So schloss ich die Ameisen ins Herz.

Den unausweichlichen Giftvölkermord büßte und sühnte ich, indem ich mir ein Formikarium zulegte, an einem schwülen Abend eine Königin beim Schwärmen einfing, in ein Reagenzglas setzte, ihre Eier legen ließ und in ihr neues Heim umsiedelte. Dort lebt sie heute noch.

Diese Ameisen demonstrieren gegen Waldrodung

Für diese Demonstration braucht es kein großes Polizeiaufgebot: Eine halbe Million Ameisen protestiert für den Schutz des Regenwaldes. Dafür soll sich Angela Merkel in Brasilien einsetzen.

Quelle: Reuters

Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder der Zeitgeist, dass die Ameise, als ich sie gerade kultiviert hatte, es war im Jahr 2004, auf der Berliner Grünen Woche zum Heimtier des Jahres ausgerufen wurde. Sie war damals, was heute der Mops ist. Aber sie ist keineswegs wieder vergessen worden wie so manches Modehaustier und genießt inzwischen einen besseren Ruf als je zuvor.

Noch bei Plutarch und Plinius galt sie als Schädling, wie auch bei Äsop, dem Fabeldichter. Noch Mark Twain hielt von ihr wenig: „Mir ist noch keine lebende Ameise über den Weg gelaufen, die mehr Verstand zu haben schien als eine tote. Ich bin davon überzeugt, dass die gemeine Ameise ein Blender ist.“

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Das größte Unrecht widerfuhr ihr allerdings im Kalten Krieg, erst kam der Film „Formicula“ ins Kino, wo Atomameisen groß wie Mammuts wurden, dann lief „Phase IV“, wo rote Ameisen als animalische Chinesen oder Russen nach der Welt griffen.

Wie der Ruf der Formicidae gerettet wurde

Erst als die Machtblöcke im Osten niemandem mehr Angst machten, wurden Animationsfilme gedreht, in denen Ameisen die Guten waren. Sowohl „Antz“ als auch „Das große Krabbeln“ waren gut gemeint, myrmekologisch aber allergröbster Unfug. Schon weil beide Helden, Z und Flik, Ameisenmännchen sein sollten.

Natürlich gibt es solche Männchen, aber sie sind alles andere als Helden. Sie gehen nicht einmal einer Arbeit nach. Nichtsdestotrotz haben es Z und Flik geschafft, nicht nur im Film die eigenen Kolonien zu retten, sondern auch den Ruf aller Formicidae, also ihrer Familie. Ameisen sind heute, wenn sie nicht gerade unsere Terrassen untergraben und in unseren Küchen ihre Straßen anlegen, des Menschen engste Freunde unter den Insekten. Was die Bienen, die es im Anthropozän schon schwer genug haben, wahrscheinlich nicht gern lesen werden.

Ameisen in Formikarium
Ameisen in Formikarium
Quelle: AFP/Getty Images

Immer, wenn mich jemand sucht, bin ich im Wald bei meinen Rossameisen. Ihre Kolonie, ein meterhoher Hügel über einem Kiefernstumpf, versinkt mit jedem Winter tief in einer Wildschweingrube und ist dann im Sommer immer wieder da. Alle Versuche, auch die wilden Ross- wie meine Wegameisen zu domestizieren, sind bisher misslungen. Keine ihrer Königinnen mochte sich in einem Formikarium einrichten und ist gestorben.

Morten Harket, der bekennende Naturromantiker und Sänger von a-ha aus Norwegen, hat mir in einem Interview einmal gesagt: „Wenn man sich so ein Nest anschaut, Millionen Ameisen, und jede einzelne hat ihre Aufgabe und schert sich nicht um uns!“ Das ist nun keine weltbewegende Erkenntnis, doch das muss es sein: Milliarden Menschen sehnen sich nach einer Aufgabe und scheren sich um alles.

Was kümmert Ameisen der Sinn des Lebens?

Meine Haus- wie auch die Wildameisen kümmern sich nicht um die ewigen und letzten Fragen. Wo kommen wir her, wer ist unsere Familie, was ist Heimat? Wo gehen wir hin, was wird aus unserer Welt und unseren Kindern? Was können wir tun, wie finden wir im Leben einen Sinn und zu uns selbst?

Die Ameise hat eine Mutter und Millionen Schwestern, sie hat ihre Kolonie und nie zu viel zu tun, aber auch nie zu wenig. Manchen ihrer Schwestern wachsen Hinterleib und Flügel, sie fliegen davon, um neue Kolonien und Familien zu gründen. Ameisen gehen einfach den Arbeiten zur Arterhaltung nach, versorgen ihre alten Mütter und die jüngeren Geschwister.

Wieso sollten sie wegwollen?

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Es ist schön zu sehen, wie sie sich verstehen, sich betrillern, wie der Fachmann sagt, und ihren Pheromonen folgen. Es scheint ein Idyll zu sein, ein selbstgenügsames Gemeinwesen. Wieso sollten sie wegwollen? Und vor allem: wohin?

Anders der Mensch: Marxisten haben seinen Trieb zur Flucht vor seinem Dasein und sich selbst immer verdammt. Der Mensch soll sich gefälligst den Verhältnissen, denen er unterworfen ist und die ihn quälen, stellen, um sie zu verändern.

Eskapismus ist das Gegenteil von jedem X-mus, den der Mensch auf Erden zu erkämpfen hat. Hier kommen wiederum die Ameisen ins Spiel. Die einen, wie Edward O. Wilson, feiern ihre soziobiologische Natur als vorbildliche Lebensweise. Flache Hierarchien für das Wohl des Staates. Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit.

Andere wie Adam Ant, der Sänger aus den Achtzigerjahren, sehen im Leben der Ameisen eher rechte Heilslehren versinnbildlicht: In „Antmusic“ singt Adam Ant über das freudlose Ertragsdasein der Engländer im Thatcherismus, Robbie Williams singt es seit den 90ern gegen die neoliberale Welt.

Die Popkultur scheint Ameisen grundsätzlich nicht zu schätzen. In „Ants Marching“ von Dave Matthews geht es um die Gleichschaltung des Geistes und im „Ant Song“ von den Throwing Muses um den Untertanengeist der Schwarmintelligenz. Einzig bei Rammstein, in ihrem grandiosen Ameisenvideo zu „Links 2-3-4“, geht es eindeutig um linke Utopien.

Sie sind wie wir. Nur anders

Beide Sichtweisen haben viel für sich, vielleicht bin ich deshalb manchmal lieber bei den Ameisen als unter Menschen. Man kann auch den sogenannten Superorganismus, den die Soziobiologie so gern beschreibt, als Volkskörper oder organische Maschine sehen.

Ich möchte weder die Schwarmintelligenz oder den Superorganismus, in dem sich die Organismen so organisieren, dass sie wie die lebenswichtigen Organe eines Organismus funktionieren, missen noch den freien Willen jedes Individuums in einer Ameisengesellschaft. Ameisen sind keine Bioroboter. Sie sind wie wir, nur anders.

Hier spielen Männer zum Glück keine Rolle

Dass ich mich in diesem Sommer umso mehr zu ihnen hingezogen fühle, mag auch daran liegen, dass die Menschheit immer stärker unter einem Übel leidet, das die Ameisen nicht kennen. Bei ihnen haben nicht nur die alten Männer keine Macht. Sondern sämtliche Männer, die irgendwann alt und mürrisch werden, sich über die Welt, die Jugend und emanzipierte Frauen ärgern überhaupt.

Die kümmerlichen Männchen haben bei den Ameisen den Auftrag der Gemeinschaft, mit den Königinnen auszuschwärmen, ein paar Gene zu vererben und sich am Ende als Futter für die Singvögel nützlich zu machen. Alfred Brehm, der Tiervater, beneidete seine geflügelten Geschlechtsgenossen sogar um das kurzlebige „Lustwandeln“ als Lebenssinn auf Erden.

Sie werden noch da sein, wenn wir weg sind

Soweit ist es schon gekommen mit der Menschheit, dass ein auch nicht mehr ganz junger Mann wie ich vor einem Rossameisenhügel steht oder vor einem Formikarium mit Wegameisen sitzt und denkt: Wie schön die Welt sein könnte ohne Männer, die, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, rechte Parteien gründen, gegen alles abstimmen, was ihnen nicht behagen könnte, und paranoide Bücher schreiben.

Ameisen waren schon da, als man von einem Kontinent zum anderen noch hätte schwimmen können und als unsere Urahnen, die ersten Säugetiere, auf den Bäumen vor den Sauriern zitterten. Die Ameisen werden auch noch durch unsere Ruinen krabbeln und sich in den Ritzen längst zerbrochener Gehwegplatten einnisten. Wir sind dann wirklich alle weg.

Künstliche Ameisen imitieren kooperatives Verhalten

Das schwäbische Unternehmen Festo hat auf der Hannover Messe Roboter-Ameisen vorgestellt. Die künstlichen Insekten verfügen über eine filigrane Anatomie und können gemeinsam Aufgaben lösen.

Quelle: N24

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