"Ich habe etwas über die Familie meiner Großmutter erfahren, und nun suche ich nach Antworten." Im Juni 2006 schreibt David Shlick diese E-Mail. Drei Monate später wird seine Familie um mehrere Mitglieder reicher sein. Und um die Erfahrung, dass im Leben nicht immer alles endgültig ist.

David Shlicks Großmutter Hilda hatte den Holocaust überlebt, das wusste er von seinem Vater – Hilda Shlick selbst sprach nie darüber. "Sie hatte die Erinnerung ganz tief in sich vergraben", sagt der 38-jährige Enkel heute. Was die Familie aus ihren spärlichen Erzählungen wusste: Hilda wurde in Czernowitz im damaligen Rumänien geboren. Die Familie hatte sieben Kinder: vier Brüder und drei Schwestern. Als die Nazis 1941 in die Stadt kamen, beschloss die Familie, Hilda, das jüngste Mädchen, mit einem Trick zu retten.

Berta, die älteste der Schwestern, war bereits verheiratet, mit einem Offizier der Roten Armee. Er bot an, sie in die Sowjetunion und damit fort von den Nazis zu bringen. Weil zwischen Berta und Hilda 24 Jahre Altersunterschied lagen, gab Berta ihre kleine Schwester als die eigene Tochter aus und floh mit ihr. Der Rest der Familie wurde deportiert. Als nach Kriegsende Bilder von der Befreiung der Konzentrationslager auftauchten, schwarz-weiße Zeugnisse unvorstellbaren Grauens, da war sich Hilda Shlick sicher, dass niemand diese Orte überlebt haben könnte.

Mit dem Stoizismus eines Menschen, der dem schlimmsten Unglück entkommen war, lebte Hilda weiter: Gemeinsam mit ihrer Schwester Berta zog sie nach Estland, heiratete, bekam selbst zwei Kinder. Die Trauer über den Verlust ihrer Eltern und Geschwister wich der Notwendigkeit, ihre neue Familie zu ernähren. Wie viele Holocaust-Überlebende verdrängte Hilda den Schmerz, so gut es ging. Über ihre Geschwister und Eltern sprach sie nie, forschte nicht nach deren Schicksal. Wo auch? Es gab zunächst keine Anlaufstelle, um alle Holocaust-Opfer bestimmen und den Überlebenden Auskunft geben zu können. Da Hilda auch mit den Jahren kein Lebenszeichen von ihrer Familie bekam, nahm sie ihren Tod an wie eine Gewissheit.

Heute weiß man: Die Familie der 87-Jährigen hatte überlebt. Dass Hilda Shlick ihre Verwandten mehr als 60 Jahre nach Kriegsende wiedergefunden hat, verdankt sie einer Datenbank in der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem. Das 1957 eröffnete Mahnmal ist nicht nur ein Museum und Ort der Erinnerung. Es sammelt auch Zeugnisse des Holocausts: Fast 180 Millionen Dokumente hat das Archiv in Jerusalem zusammengetragen. Und die Erforschung der Schoah, so das hebräische Wort für "Katastrophe", dauert an. Bis heute ist nicht exakt geklärt, wie viele Menschen die Nazis und ihre Helfer ermordeten. Schätzungen gehen von rund sechs Millionen jüdischen Opfern aus. Um ihre Verbrechen zu vertuschen, hatten die Täter kaum Buch geführt. Mit dem Rauch aus den Verbrennungsöfen sollte sich auch jede Erinnerung an die Ermordeten auflösen.

Dieser Artikel stammt aus MERIAN Heft Nr. 01/2016

Ein Projekt in Jad Vaschem versucht deshalb, jeden einzelnen Toten aufzulisten. In einer Kartei sind Name und Biografie jedes Ermordeten erfasst – soweit man sie eben kennt. "Die Nazis haben nicht nur versucht, die Opfer auszulöschen, sondern die gesamte Erinnerung an sie", sagt Alexander Avraham, Leiter der "Halle der Namen", in der die Daten gesammelt werden. Jad Vaschem will den Toten einen Namen, einen Geburtsort, ihren Beruf, eine Identität geben.

Es ist die weltweit einzige Liste aller Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Sie zu bewahren und weiterzuführen ist die Aufgabe, der Jad Vaschem sich seit seiner Gründung verschrieben hat: Schon der Name der Gedenkstätte, auf Deutsch "Denkmal und Name", verweist auf ein Versprechen Gottes an die Juden: "Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal", heißt es bei Jesaja 56, 5. Und: "Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird."

Um in Alexander Avrahams Büro zu gelangen, muss man das weitläufige Gelände von Jad Vaschem durchqueren. Vom Eingang am Herzlberg geht es vorbei an Johannisbrotbäumen: Mit dieser "Allee der Gerechten" wird jener Menschen gedacht, die oft unter Lebensgefahr versucht hatten, Juden zu retten – mehr als 25.000 dieser "Gerechten unter den Völkern" sind bislang bekannt. Vom Garten führt eine Holzbrücke zu einem schmalen, granitgrauen Bau, dem eigentlichen Museum. Schon in der Bauart – von dem in Haifa geborenen Architekten Moshe Safdie erdacht – steckt eine Botschaft. Aus der Luft betrachtet, erscheint das Gebäude wie eine Linie, die in den Berg schneidet. Dieser Strich symbolisiert den Einschnitt in die Geschichte des jüdischen Volkes.