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Ein Eis ist ein Eis ist ein Eis

 

Funktionalität war gestern. Schönheit vorgestern. Unser Autor schwört stattdessen auf selbstreferenzielles Design. Die, nun ja, apartesten Stücke hat er gesammelt.

© Jochen Schmidt

Erst durch meine Digitalkamera habe ich die Gewohnheit angenommen, ständig zu fotografieren, es kostet ja nichts. Ich sammle schöne Lüftungsschächte, traurige Tischtennisplatten, einzelne Handschuhe, Darstellungen des Sputniks, schlechte Wortspiele aus der Werbung, unfreiwillig komische Skulpturen im öffentlichen Raum, hässliche Kunst über Hotelbetten, Fotos von Regalen in Buchläden und Bibliotheken, in denen bei „Schmidt“ kein Buch von mir steht. Ein Sammelgebiet, das mir besonders am Herzen liegt, sind Gegenstände, die sich selbst enthalten, oder, wissenschaftlicher ausgedrückt, „selbstreferenzielles, mimetisches Design“. Zum ersten Mal fiel mir so eine Lösung für ein Gestaltungsproblem im Bukarester Cişmigiu-Park auf, bei einem Fahrradständer in Form von Fahrrädern, der noch dazu mit einfachen Mitteln aus Bewehrungsstahl hergestellt worden war.

 

© Jochen Schmidt

Der anonyme Gestalter hatte einen Gebrauchsgegenstand geschaffen, der mit seiner Form auf seinen Zweck verwies. Mein nächster Fund war der Informationskasten eines Tennisclubs in Form eines Tennisschlägers. Das war zwar dämliches Design, aber semiotisch hochinteressant.

 

© Jochen Schmidt

Wie verbreitet das Phänomen war, wurde mir beim Sammeln bewusst. Besonders bei Behältern war selbstreferenzielles Design besonders beliebt. Ich fand eine Haribo-Gummibärchen-Packung in Form eines Gummibärchens.

 

© Jochen Schmidt

Ein Buntstiftetui in Form eines Buntstifts.

 

© Jochen Schmidt

Einen Obstkorb in Form eines Apfels.

 

© Jochen Schmidt

 Einen Schirmständer in Form eines Schirms.

 

© Jochen Schmidt

Es gab auch eine „Trompe-l’œil-Variante“, wie bei diesem Beispiel, das ich im Budapester Museum für Kunstgewerbe in einer Keramik-Ausstellung fand. Eine Spargelform, die nicht nur aussah, wie das, was sie enthielt, sondern es gleichzeitig versteckte.

 

© Jochen Schmidt

Die berühmte Bananenbox war sogar ein so gutes Versteck für Bananen, dass mir immer wieder Bananen darin vergammelten.

 

© Jochen Schmidt

Das war alles sehr hässlich, aber gleichzeitig auch faszinierend. Gutes Design bildet so einen winzigen Ausschnitt der Dinge, die Menschen herstellen, dass es vielversprechender sein könnte, über schlechtes Design nachzudenken. Der Architekt Robert Venturi spricht in Lernen von Las Vegas – Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt sogar von der „tödlichen Befangenheit im Getto des guten Geschmacks“. Zeichentheoretisch waren die Gegenstände, die sich selbst enthielten, Avantgarde, denn sie nutzten ein Stilmittel aus der Hochkultur, die Mise en abyme. In Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen findet Heinrich in einem Stollensystem eine in provenzalischer Sprache (die er zum Glück nicht spricht) verfasste Chronik, die seine eigene Lebensgeschichte enthält, auch die Zukunft. Das Buch ist eine Bananenbox! Genau wie Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in der der Erzähler Marcel nach über 3.000 Seiten endlich darauf kommt, dass seine Bestimmung darin besteht, ein Buch über seine Erinnerungen zu schreiben, also genau das Buch, das wir gelesen haben. Man denkt natürlich unweigerlich an die Verpackung von „La vache qui rit„, auf der eine lachende Kuh zu sehen ist, deren Ohrringe aus „La vache qui rit„-Käsepackungen bestehen.

 

© Flavio Ensiki

Einige meiner Autorenkollegen lesen gar keine gute Literatur mehr, weil „bad writing“ sie viel mehr inspiriert, also z. B. Filmzusammenfassungen in der Fernsehzeitung, Gebrauchsanweisungen, Amazon-Kritiken, Werbetexte von Immobilienmaklern, Tweets von Fußballprofis, Roman-Leseproben aus dem Bahn Magazin mobil-Magazin. Meine Freude am dämlichen Design ist vielleicht vergleichbar mit der Freude an „bad writing„. Es überfordert mich nicht, enthält aber ungeheuer viel Gegenwart. Wie irritierend dieser postmoderne Fußabtreter, der mit Fußabdrücken bedruckt wurde, damit man nicht lange rätseln muss, ob es vielleicht gar kein Fußabtreter ist!

 

© Jochen Schmidt

 Eine eierförmige Eieruhr hilft beim Eierkochen.

 

© Jochen Schmidt

 Hier handelt es sich vermutlich um ein Fischrestaurant.

 

© Jochen Schmidt

 Manchmal sagt einem auch schon der Türgriff, welche Speisen man zu erwarten hat.

 

© Jochen Schmidt

Die Tür dieser Magdeburger Bäckerei öffnet man mit einem croissantförmigen Griff.

 

© Jochen Schmidt

 Nur dumm, wenn die Bäckerei schließt und, wie hier in Aschersleben, eine Dönerbude einzieht.

 

© Jochen Schmidt

 Jeden Zweifel, dass es sich um ein Eiscafé handelt, beseitigt diese in Dresden zu findende Sitzgruppe.

 

© Jochen Schmidt

 Wenn das Schlüsselbrett wie ein Schlüssel aussieht, muss man nicht lange suchen.

 

© Jochen Schmidt

Und an den Schlüssel kommt ein Schlüssel als Anhänger, damit man ihn nicht verliert.

 

© Jochen Schmidt

Eine Sonderform selbstreferenziellen Designs könnte man die „Arcimboldo-Form“ nennen. Dieser Maler aus dem 16. Jahrhundert hat bekanntlich das Spiel betrieben, Porträts von Menschen aus Blumen, Tieren oder Früchten zusammenzusetzen (der Gemüsegärtner aus Gemüse, der Herbst aus Herbstfrüchten, der Wind aus Vögeln). Besonders schön ist der Bibliothekar, der aus lauter Büchern besteht.

 

© Wikipedia

Doch was ist Arcimboldo gegen diese Glanztat eines mir unbekannten DDR-Formgestalters? Eine Spielzeug-Lokomotive, die aus Buddelzeug besteht!

 

© Jochen Schmidt

 Und geradezu vollkommen dieses von einem anonymen Metzger geschaffene Mettwurst-Schwein.

 

© Jochen Schmidt

In der Architektur spricht man im Zusammenhang mit den größtenteils Utopie gebliebenen Projekten einiger Architekten der Französischen Revolution von „Architecture parlante„, sprechender Architektur. Bekannt ist Étienne-Louis Boullées Kenotaph für Isaac Newton (1784), also ein Grabmal für den abwesenden Toten, das die Gestalt einer gewaltigen Kugel haben sollte, deren Innenraum das nächtliche Universum war, durch Löcher in der Decke wurde der Sternenhimmel simuliert.

 

© Wikipedia

Sehr schön ist auch das phallusförmige Bordel von Claude-Nicolas Ledoux („Oikema“), das leider nie gebaut wurde. Er hatte es für seine utopische Salinenstadt Chaux vorgesehen, über die er ein Buch geschrieben hat, um als ehemaliger Architekt des Königs der Guillotine zu entgehen. In der Spitze des Phallus sollte sich der Salon befinden.

© Wikipedia

Eine populäre Form solcher sprechender Architektur hat sich im 20. Jahrhundert in den USA ausgebreitet, Straßencafés in Gestalt einer Kaffeetasse, ein hutförmiger Hutladen, ein burgerförmiges Burgerrestaurant, ein Donut-Imbiss, dessen Dach ein riesiger Donut schmückt.

 

© Wikipedia

Robert Venturi war der Erste, der die Symbolik solcher Gebäude untersucht hat. Er nannte sie „Enten“, nach dem Beispiel eines berühmten entenförmigen Entenimbisses. Venturi wirbt dafür, seine Geschmacks-Dünkel abzulegen und als Gestalter von der Vitalität solcher Gebrauchsarchitektur zu lernen. Für ihn ist aber auch die Kathedrale von Chartres eine „Ente“ (kreuzförmiger Grundriss), wie alle Gebäude, bei denen „die architektonischen Dimensionen von Raum, Konstruktion und Nutzung durch eine alles zudeckende symbolische Gestalt in ihrer Eigenständigkeit aufgelöst und bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden“.

Besonders schön ist das Beispiel des Hauptsitzes der Korbfirma Longaberger in Newark, Ohio, der die Form eines riesigen Korbs hat (die Griffe sollen beheizt sein, damit sich kein Eis bildet).

 

© Derek Jensen

Aber auch die französische Nationalbibliothek, die wie vier aufgeschlagene Bücher aussieht, gehört hierhin, oder das Naturinformationszentrum der „Bergwelt Karwendel“ über dem bayerischen Mittenwald, das die Gestalt eines Fernrohrs hat.

 

© Kira Nerys

Ein Wahrzeichen der Stadt Nordhausen sind die schnapsflaschenförmigen Braukessel der Firma Nordhäuser Spirituosen GmbH.

 

© Wikipedia

Man spricht auch von „novelty architecture“ oder „mimetic architecture„, Gebäude, die mit ihrer Form berühmte Gebäude kopieren oder Gegenstände darstellen, meist zum Zweck der Werbung. Warum nicht eine Bank in Form eines Geldscheins, ein Krankenhaus in Form eines Tuberkels, eine Friedhofskapelle in Form eines Sargs? Robert Venturi hat dieses populäre Stilmittel bei seinem Guild House, einem Wohngebäude für ältere Menschen in Philadelphia, zitiert, indem er auf dem Dach über dem Eingang eine vergoldete Antenne anbringen ließ, die für den dominierenden Lebensinhalt der Bewohner stehen soll. Das war nicht hässlich, sondern ein Zitat von Hässlichkeit und als solches ja wieder originell.

In meinem Roman Zuckersand hat der Erzähler Richard Sparka, der auf der Suche nach dem Wesen der Schönheit ist, gleichzeitig eine Vorliebe für „Gegenstände, die sich selbst enthalten“. Er freut sich an einer Wurstterrine mit einer Wurst als Griff, die jemand im Hausflur zum Verschenken auf den Treppenabsatz gestellt hat.

 

© Jochen Schmidt

Als er zum ersten Mal seine zukünftige Freundin besucht, staunt er, dass sie einen Mutterpantoffel besitzt, einen großen Filzpantoffel, der wie ein Känguru in seinem Bauch lauter kleine Pantoffel beherbergt. (Schade, dass die Pantoffelkinder nicht abends von selbst zu ihrer Mutter rutschen und in den Beutel schlüpfen, wo man sie morgens nicht lange suchen müsste.)

 

© Jochen Schmidt

Als Richard und Klara einen Sohn bekommen, der ihm sehr ähnlich sieht, wird ihm bewusst, dass er selbst in gewissem Sinne sein Leben lang ein Gegenstand gewesen ist, der sich selbst enthielt. Während er sich immer gefragt hatte, was er mit sich anfangen sollte, war er ein Behälter für seinen Sohn gewesen. Wie ernüchternd! Aber andererseits: wie schön!

 

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