"Mannheim ist sehr multikulturell", sagt Filiz-Marleen Kuyucu der Obama Foundation, während sie durch ihre Stadt spaziert. "Es gibt junge Menschen, Studenten. Gleichzeitig sehe ich viele Menschen mit Hijabs. Ich sehe viele alte Leute und Menschen, die mit ihren Autos vorbeifahren, aus denen türkische Musik kommt." Kuyucu ist eine typische Vertreterin der deutschen Willkommenskultur. Die Sozialarbeiterin kommt aus aus einer deutsch-türkischen Familie und koordiniert bei der Mannheimer Diakonie die ehrenamtlichen Flüchtlingsbetreuer. "Wir müssen respektvoll miteinander leben", sagt sie. In dieser Woche fährt sie nach Berlin. Am Donnerstag wird sie das Gesicht des Evangelischen Kirchentages sein. Er gilt als ein Höhepunkt des 500. Jubiläumsjahres der Reformation 2017. Die Organisatoren erwarten mehr als 100.000 Besucher.

Filiz-Marleen Kuyucu zählt zu den wichtigsten Teilnehmern. Zusammen mit dem Wirtschaftsinformatikstudenten Benedikt Wichtlhuber und zwei Kolleginnen aus Chicago wird sie Barack Obama und Kanzlerin Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor Fragen stellen. Wichtlhuber kommt ebenfalls aus Mannheim und engagiert sich in der evangelischen Kirche. Ansonsten war er Vizevorsitzender der Gruppe "die Liste", eine Art Spaßguerilla im Studentenparlament. Ihr Spruch: "Wir wollen, was ihr wollt". Auf Inhalte legt sich "die Liste" nicht fest. Auf ihrer Facebookseite streckt sie den Besuchern einen nackten Männerhintern entgegen und wartet auf dessen Löschung.

Der Auftritt von Obama und Merkel ist der Top Act unter den insgesamt 2.500 Veranstaltungen. Der oberste Repräsentant der evangelischen Kirche, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, hat ihn persönlich eingefädelt, zusammen mit der Kirchentagspräsidentin und Theologieprofessorin Christina aus der Au. Im Vorfeld hatte es viel Kritik gegeben: Was soll ein US-Politiker auf einem Christentreffen? Macht er Wahlkampf für die Union? Ein Boulevardblatt berichtete, die evangelische Kirche habe dem eigentlich eigenständig agierenden Kirchentag den Obama-Besuch ins Programm gedrückt. Beide Seiten dementierten. Vielleicht spiegelt sich in der Kritik auch, dass Obama die früheren Kirchentagstars wie Margot Käßmann überstrahlt. Sie ist jetzt die Reformationsbotschafterin ihrer Kirche.

Nähe zur Politik hat Tradition

Überdies passt Obamas Besuch. Spitzenpolitiker gehen auf den Treffen ein und aus. Protestanten, so scheint es, übernehmen gern Verantwortung im Staat. Vor zwei Jahren diskutierte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck mit dem Philosophen Hartmut Rosa. Angela Merkel zählt zu den ständigen Gästen des Treffens. Innenminister Thomas de Maizière gehört zum Präsidium des Kirchentages, und der neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war schon zum Kirchentagspräsidenten für das nächste Treffen 2019 im Ruhrgebiet ausersehen. Nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt musste er jedoch absagen. Unter den 15 Mitgliedern des Rates der evangelischen Kirche finden sich wiederum der CDU-Staatssekretär Thomas Rachel, die SPD-Kirchenexpertin Kerstin Griese und die Grande Dame der FDP, Irmgard Schwaetzer. 

Die Nähe zur Politik hat Tradition. Auf den ersten Kirchentagen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Details der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft diskutiert. Evangelische Christen sollten nach der Nazizeit ihre Demokratiefähigkeit schulen. Der Bischof Bedford-Strohm hat diesen Gründungsimpuls in Zeiten der Politikverdrossenheit nun neu belebt. Er nennt sein Konzept "Öffentliche Theologie" und kämpft dafür, dass Kirchen so reden und handeln, dass die Gesellschaft sie hört und versteht. Er hat beste Kontakte in die USA. Zum Beispiel zum früheren Microsoft-Chef Bill Gates, der mit seiner Stiftung die weltweite Ausrottung von Kinderkrankheiten propagiert. Gates will mit dem deutschen Bischof zusammenarbeiten.

Die Veranstaltung mit Obama und Merkel trägt den Titel: "Engagiert Demokratie gestalten – Zuhause und und in der Welt Verantwortung übernehmen". Zeitgleich läuft eine Debatte mit einer AfD-Funktionärin. Die Veranstaltung war im Vorfeld hoch umstritten. Der Kirchentag musste fürchten, dass sie die Nachrichten über den Kirchentag beherrscht. Nun werden Obama und Merkel die AfD-Debatte überstrahlen.

Protestantismus hofft auf innere Erneuerung

Ansonsten soll der Kirchentag eine fröhlich-mächtige Demonstration des Weltprotestantismus werden, angeführt von Christen in seinem Ursprungsland. Zum Schlussgottesdienst mit dem südafrikanischen Bischof Thabo Makgoba werden 150.000 Menschen auf den Elbwiesen vor Wittenberg erwartet, in Sichtweite der Schlosskirche. Dort hatte Martin Luther vor 500 Jahren der Überlieferung nach seine 95 Thesen veröffentlicht. Die Reformation, die er anstieß, revolutionierte nicht nur die Kirche, sondern die gesamte Gesellschaft. Sie stellte die Einheit von Staat und Religion und damit deren Macht infrage. Daraus beziehen Protestanten heute sowohl ihren Hang zum Staat wie auch ihre kritische Distanz, etwa wenn sie gegen die Einschränkungen des Asylrechts protestieren, oder wenn Gemeinden Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren.

Der Protestantismus hofft auch auf eine innere Erneuerung. Wolfgang Huber, der frühere Berliner Bischof und einer der theologischen Lehrer von Bedford-Strohm, stieß vor elf Jahren ein langfristiges Erneuerungsprogramm an. Denn die Kirche, die das Engagement im Staat mag, steht in Gefahr, ihre religiöse Botschaft zu verlieren und sich selber zu säkularisieren. In Europa leiden fast alle Kirchen an Mitgliederschwund. In der nächsten Generation steht den deutschen Kirchen zudem ein Abbruch zuvor: Sie verlieren ein Drittel ihrer Mitglieder und die Hälfte ihrer Finanzkraft. Nach dem Jubiläum, so Hubers Erwartung, sollte der Protestantismus seine innere Kraft so wiederentdeckt haben, dass er den Rückgang mit frischer Kraft bremsen und sich als entscheidende Gruppe in der Gesellschaft behaupten kann.

Hinweis: In einer früheren Version wurde Filiz-Marleen Kuyucu missverständlich übersetzt. Außerdem hieß es, dass Benedikt Wichtlhuber Informatikstudent und Vizepräsident der studentischen Gruppe "die Liste" sei. Tatsächlich studiert er Wirtschaftsinformatik und ist nicht mehr Vizepräsident. Für die Fehler entschuldigen wir uns.