Während die Politik hierzulande über die Industrie 4.0 und ihre Folgen diskutiert, ist Japan schon einen Schritt weiter: Auf der Cebit in Hannover präsentierte das Partnerland seine Pläne für eine "Gesellschaft 5.0". "Wir stehen am Anfang des fünften Zeitalters der Menschheitsgeschichte. Nach Industrie 4.0 kommt Society 5.0, in der sich alles untereinander vernetzt", sagte Premierminister Shinzo Abe in seiner Rede.

Das Konzept blieb da noch etwas konturlos. In einer Anzeige der Financial Times, in der die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt dafür warb, wurde die Vision etwas schärfer. Gesellschaft 5.0 bedeutet die fünfte Entwicklungsstufe der Menschheitsgeschichte, nach dem Jäger und Sammler, Agrar-, Industrie- und Informationszeitalter komme nun das Zeitalter der Vernetzung. "In dieser ultrasmarten Gesellschaft", heißt es in der Zeitungsanzeige, "wird Japan weiter die Netzwerk- und Internet-der-Dinge-Kapazitäten von fortgeschrittenen Innovationen in der Herstellung bis in jeden Winkel der Gesellschaft ausbauen und dramatisch die Lebensqualität verbessern und das Wirtschaftswachstum ankurbeln." Sensoren, Roboter, Big Data und Cloud Computing würden in die Gesellschaft "integriert", um Menschen zu helfen, "unüberwindbare" Probleme zu lösen.

Japan ist eine rasant alternde Gesellschaft. Bis 2050 werden nach Schätzungen des nationalen Zensus 40 Prozent der Bürger über 65 Jahre alt sein. Die Antwort auf den demografischen Wandel lautet: Roboter. In Pflege- und Seniorenheimen kommen schon heute Tausende Roboter zum Einsatz, Geh- und Aufsteh-Assistenten, künstliche Kuschelrobben und futuristische Power-Handschuhe, die gebrechlichen Senioren und behinderten Menschen zu mehr Bewegung verhelfen.

Japan gilt als führende Robotik-Nation der Welt. Der Assistenzroboter Pepper, der in der französischen Bahn SNCF, der Supermarktkette Carrefour sowie auf Schiffen von Aida Cruises und Costa Crociere zum Einsatz kommt, kann Emotionen von Menschen durch deren Mimik und Stimme erkennen und vorauseilend reagieren. In einer Tokioter Filiale des Telekommunikationskonzerns Softbank, der den Roboter mitentwickelt hat, ist Pepper so programmiert, dass er Kunden das neue iPhone anbietet.

Die Automatisierung mag dem Menschen gewiss Mühen abnehmen, doch die Frage ist, wie diese ultra-smarte Gesellschaft aussehen soll und welche Rolle der Mensch darin spielt. Ist der Mensch im Internet der Dinge nur eine Maschine unter vielen? Wird die Gesellschaft zur smarten Fabrik, in der es nur darum geht, Prozesse zu optimieren und den Diskurs so zu formen, dass er glattgeschliffen wie auf einer Produktionsstraße nur in eine Richtung läuft? Braucht es vielleicht sogar einen neuen Gesellschaftsvertrag, wenn immer mehr Aufgaben an Maschinen delegiert werden? Einen Sozialvertrag, der Roboter verpflichtet? Das japanische Wirtschafts- und Handelsministerium hat ein KI-System erprobt, das Beamten dabei hilft, Antwortschreiben für Kabinetts- und Parlamentssitzungen zu formulieren. Wenn künstliche Intelligenzen mit hoheitsrechtlichen Aufgaben beliehen werden, bräuchte es zumindest eine legitimatorische Grundlage und vielleicht, etwas globaler gedacht, einen Staatsvertrag.

"Du brauchst heute einen Regenschirm"

Abgesehen von seinem recht grobschlächtigen universalhistorischen Anwurf wurde Premierminister Abe auf der Computermesse deutlich: Es müsse sich "alles" vernetzen. Das schließt freilich auch Menschen ein. An dieser Vision ist nicht nur der technologische Determinismus verstörend, sondern auch der damit formulierte kategorische Imperativ. Darin schwingt die Logik mit: Wer sich nicht upgradet, ist abgehängt. Man hat ja heute praktisch keine Wahl mehr: In Elektronikgeschäften gibt es mittlerweile nur noch internetfähige Smart TVs, die bekanntlich gehackt und ausspioniert werden können, und manche Start-ups erreicht man nur noch per Mail. Wer keinen Internetanschluss hat, kann lediglich begrenzt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Kann das Sinn und Zweck einer freiheitlichen Gesellschaft sein?

Bundeskanzlerin Angela Merkel schien jedenfalls Gefallen an der Utopie gefunden zu haben: "Gerade die japanische Vision von Gesellschaft 5.0 ist eine sehr interessante Vision, die auch für Deutschland inspirierend wirken wird", sagte sie auf der Cebit. Gleichwohl: Das Konzept der "ultrasmarten" Gesellschaft ist nicht zu Ende gedacht. Die Computerisierung wirtschaftlicher und politischer Prozesse führt dazu, dass mehr und mehr kognitive Kompetenzen an künstliche Intelligenzen delegiert werden und der Bürger entmündigt wird. Beispiel Navigation: Heute kann kaum noch jemand Karten lesen, obwohl Kartenlesen eine Kulturtechnik ist. Stattdessen folgt man dem Navigationsgerät. Wir verlassen uns blind auf die Technik. Navi ein, Gehirn aus. Beispiel virtuelle Assistenten: Wenn man Apples Sprachsoftware Siri fragt, wie das Wetter wird, antwortet sie freundlich: "Du brauchst heute einen Regenschirm." Als könne der Nutzer nicht eigenverantwortlich von Niederschlag auf die Notwendigkeit eines Regenschirms schließen. Vielleicht braucht er auch keinen Regenschirm, weil er ein Regencape bevorzugt. Vor allem beantwortet die paternalistische Antwort die Frage nicht. Sieht so die ultrasmarte Gesellschaft aus, ein computerisierter Nanny State, in dem willfährige Bürger von Maschinen bemuttert werden?