Wer den pathetischen U2-Schmachtfetzen Love is Blindness zum Einsatz bringt, der schreibt beim Name-Stadt-Land-liebste-Eigenschaft-Spielen nicht "Subtilität" hin, wenn der Buchstabe S aufgerufen wird. Love is Blindness ist heftigstes Geschwelg, die Bazooka der Gefühlserregung, ein Lied, das keine Gefangenen macht, wie man früher gesagt hätte. Baz Luhrmann hat eine Coverversion davon durch seine Neuinterpretation von Der große Gatsby mit Leonardo DiCaprio rauschen lassen als große Verzweiflungsnummer, aber Luhrmann ist auch ein filmischer Zuckersüßwarenfabrikant, der Glitzerwelten entwirft, in denen sich Oberflächenreize Gute Nacht sagen.

Wenn Love is Blindness nun den Polizeiruf: Einer für alle, alle für Rostock (NDR-Redaktion: Daniela Mussgiller) eröffnet, dann macht das natürlich Eindruck – der Song ist ja eine Wucht. Aber es ist auch ein wenig billig, weil doch noch gar nichts passiert ist, die Gefühle aber schon mal groß aufgebürstet werden. Das Lied in seinem dicken Moll legt den Schatten der Erinnerung über die Bilder von Frau König (Anneke Kim Sarnau), die nach der Vergewaltigung durch einen Täter am Ende des letzten Falls erstmals wieder zur Arbeit geht. Und der Hit funktioniert als Motiv-Anstimmer für den Film, in dem es um die Liebe gehen soll, um Enttäuschungen, Verrat und Gewalt. Obwohl Love is Blindness für die Rostocker Händel viel zu groß ist.

Das mag wie übertriebenes Gemäkel wirken, zumal doch der Polizeiruf das ist, was München letzte Woche gar nicht sein wollte – hart, schnell und stärker interessiert an Ermittlung und Auflösung. Die Hooliganszene, in der die Folge spielt (Drehbuch: Wolfgang Stauch), bringt Körperlichkeit und Gefahr mit sich, was Lana Cooper als Friseurin Doreen mit eigenem Laden (bester Name ever: Haarpune) auf ein sexyhexy Bild bringt: eine sich selbst verteidigende Mutter, die Nummern mit dem Ex schiebt, wenn ihr der Sinn danach steht.

Aber das Leiden mit dem Rostocker Polizeiruf ist das Bangen mit dem liebsten Kind, dem man wünscht, dass es seine Möglichkeiten zur Entfaltung bringt. Dabei ist es lässlich, dass die Hooligannummer mehr Wollen als In-der-Lage-sein ausstrahlt: Um den Aggrotrupp wirklich furchteinflößend aussehen zu lassen, fehlt es am Geld für mindestens noch mal so viel Komparsen. Also wird permanent von unten gefilmt und in Tunnel gesteckt, damit die Grenzen des Budgets nicht zu deutlich hervortreten. Dass die jungen Leute reden wie Drehbuchautoren ("Was dem Wort Schweißfuß noch mal 'ne ganze neue Bedeutung gibt"), lässt sich ebenfalls verschmerzen.

Unangenehmer ist, dass das Rostocker Kapital in diesem Film nicht wertgeschätzt wird. Also das dufte Ermittlerensemble und die folgenübergreifende Erzählung. Die Szene mit Pöschi (Andreas Guenther) und Everybody's Volker (Josef Heynert) am Tresen der Zahnarztpraxis ist plakativ auf eine Komik hin inszeniert (Regie: Matthias Tiefenbacher, der mehrfach Tatort: Münster gedreht hat), die zum trocken-ranzigen Witz des Polizeiruf nicht passt. Und Frau König muss ästhetisch mühsame Flashbacks haben, damit das Vergewaltigungstrauma erinnert wird.

Matthias Dell schreibt seit 2010 wöchentlich über "Tatort" und "Polizeiruf 110". Auf ZEIT ONLINE nun in der Kolumne "Der Obduktionsbericht". © Daniel Seiffert

Das ist ein Erzählzwang, den dieser Polizeiruf vom überflüssigen Schluss der Vorgängerfolge geerbt hat, der aber auf das größere Problem verweist. Denn Rostock ist es gelungen, mit Ruhe und einem Gespür für markante Setzungen in Bögen zu erzählen, die man sich ohne Was-bisher-geschah-Erinnerungen über ein halbes Jahr merken konnte – die Trennung Bukoffs (Charly Hübner) von Vivienne (Fanny Staffa) und das Anklampfern des einst befreundeten Kollegen waren Teil der Charakterzeichnung.

Fast wie in einer Soap

Wenn nun aber Everybody's Volker und Vivienne am hellerlichten Tag durch ein leeres Neubauvierteln turteln und Bukoff hinter ihnen herläuft, ohne dass davon Notiz genommen wird, dann ist das fast wie in einer Soap – lieblos hingestellt, nur auf den Umstand bedacht (dass die beiden sich jetzt lieben) und eben nicht schön erzählt. Ähnlich ist es mit dem Konflikt um die Berichte, die Frau König und Bukoff über den Einsatz aus der letzten Folge abfassen müssen – es stehen sich einfach zwei Möglichkeiten gegenüber, statt mit etwas mehr erzählerischem Aufwand ein moralisches Dilemma zu erzeugen für die Zuschauerin: ob man in solchen Berichten die Wahrheit sagen muss oder nicht.

Der Polizeiruf Rostock ist etwas Kostbares, weil er es tatsächlich geschafft hat, über einen längeren Zeitraum Geschichten zu erzählen. Diesen Ansatz zu pflegen bedarf aber mehr Mühe, als sich dieser Fall macht.