In Engel, Denis Johnsons 1983 erschienenem und auf Anhieb gefeiertem Debütroman, sitzen Bill Houston und der Kindermörder Richard Clay Wilson in zwei benachbarten Zellen und warten auf ihre Hinrichtung. Wilson ist der Meinung, man könne ihn gar nicht umbringen, befände er sich doch im Besitz des Gedichts, des legendären Gedichts, von dem alle hier im Gefängnis redeten. Auf Bills eindringliche Bitte holt Wilson irgendwann den zusammen gefalteten Zettel aus einer Kassettenhülle, wirft sich in Positur und beginnt zu deklamieren.

Die letzte Strophe des Gedichts lautet folgendermaßen: "Jesus Christus, deine Türen öffnen und schließen sich, du berührst die maniac drifters, die fire eaters, ich könnte tausend Dinge über dich sagen und nie diese Stille herbeiführen. Genau das mein' ich mit Dunkelheit, den Ort, an dem ich deinen Mund küsse, an dem nichts Schlimmes passiert ist. Ich bin niemand Besonderes, aber ich wünschte, man könnte mir sagen, wann du kommst, um uns zu erlösen. Ich habe ein paar Gedichte und Loblieder geschrieben, und eins davon wurde in diesem religiösen Ultrahochfrequenzsender ausgestrahlt. Und das geht so."

Ende. Ist das kryptisch, unverständlich, völlig durchgeknallt? Zumindest klingen darin eine Menge Grundmotive an, die sich als roter Faden durch das Werk des 1949 als Sohn eines amerikanischen Offiziers in München geborenen Johnson zogen: Rausch, Erlösung, Epiphanien, transzendentale Sehnsüchte und Gotteserfahrungen. Johnson kam früh mit Drogen in Berührung; im Alter von 21 Jahren machte er seine erste Alkohol-Entziehungskur; auch Heroinkonsum war ihm nicht fremd. Im Jahr 1969 veröffentlichte Johnson seinen ersten Lyrikband The Man among the Seals, doch den Durchbruch schaffte er erst, als er anfing, Prosa zu schreiben und Autoren wie Don DeLillo auf ihn aufmerksam wurden.

Freaks, Spinner, Junkies

Johnsons Romanlandschaften waren abenteuerliche Gebiete: Einsame Wälder, in denen sich Versprengte umhertreiben, deren eigene Visionen sie selbst erschrecken. Die neblige Küstenlandschaft Nordkaliforniens. Das Land nach einer Atomkatastrophe wie in Fiskadoro. Oder auch eine zivilisatorische Müllhalde. Gottsucher in einer gottlosen Welt, Esoteriker, Junkies, Freaks, Spinner, kurz: Menschen, die aus der Bahn geworfen wurden oder sich in einer gänzlich fernen Bahn befinden – das waren die Orte und die Figuren dieses Schriftstellers.

Sein Werk war offen für sämtliche Gattungen; die Kolportage hatte darin ebenso Platz wie die Gothic Novel oder die klassische Erzählung. Eines von Johnsons stillsten, beeindruckendsten und gelungensten Büchern, die Novelle Train Dreams, dürfte im Übrigen auch der Schriftsteller Robert Seethaler sehr genau gelesen haben; jedenfalls ähnelt dessen Erfolgsroman Ein ganzes Leben in Form und Struktur auffällig Johnsons Geschichte des Hilfsarbeiters Robert Grainier, den Johnson durch die rund 80 Jahre seines Lebens begleitet. 

Johnson beherrschte die kurze und die lange Form, das Gedicht, die short story und den Roman. Und er schrieb in einer niemals pathetischen, aber stets hoch aufgeladenen Sprache voller überraschender Bilder und von großer Schönheit, in der seine Endzeitszenarien wie Verheißungen erscheinen konnten. Darin war Johnson Cormac McCarthy, dem Giganten der amerikanischen Literatur der Nachkriegsepoche, verwandt.

Bei aller Wandlungsfähigkeit und Heterogenität seiner Stoffe war Johnson ein Autor, der an einem in sich vielfach verbundenen, komplex strukturierten und trotzdem sogartig funktionierenden Werk gearbeitet hat. Sein Roman Schon tot trägt im Original den Untertitel A California Gothic und ist ein rund 600 Seiten starker, auf diversen Zeitebenen spielender Horrortrip, angesiedelt an der in düsteren Farben prächtig ausgemalten Küstenlandschaft Nordkaliforniens. Dort scheint niemand mehr so recht seine Sinne beisammen zu haben; es wimmelt von hexen- und/oder gottgläubigen Menschen, Aussteigern und New-Age-Freaks, Drogenanbauern und korrupten Polizisten, die allesamt in ihrem eigenen Weltsystem leben. Und mittendrin ist da ein Mann namens Van Ness, ein leibhaftiger Zombie, vollgestopft mit Nietzsche-Zitaten.