Eigentlich wäre es die perfekte Gelegenheit. Die SPD hat gerade drei Landtagswahlen vergeigt, ein Negativsog droht die Partei zu ergreifen. Da könnte doch das lang erwartete Regierungsprogramm etwas entgegensetzen, neue und positive Schlagzeilen schaffen. Aber diese Chance haben die Sozialdemokraten nicht genutzt.

Die Fristen für den Bundesparteitag diktierten, dass der Leitantrag für das Programm am Tag nach den Wahlen, an diesem Montag also, in den Vorstand musste. Doch statt es danach offensiv und groß vorzustellen, veröffentlichte die Parteizentrale das Papier nur online und verschickte es an ihre Mitglieder. So entdeckt jetzt ein Medium nach dem anderen den Entwurf, anstatt dass die Berichterstattung eine konzertierte Wucht entwickeln kann, wie es eigentlich im Sinne der SPD wäre. So lange hatte Spitzenkandidat Martin Schulz auf dieses Papier verwiesen, so lange den großen inhaltlichen Aufschlag angekündigt – und dann verstolpern sie es.

Ein Grund ist, dass der Entwurf an wichtigen Stellen noch unfertig ist. Zum Beispiel bei der Rente, den Steuern, den Finanzen. Dazu will die Partei erst kommende Woche konkrete Positionen präsentieren. Aber das ändert nichts daran, dass sich zuletzt viele kleine Fehler im SPD-Wahlkampf aufsummiert haben. Beispiel Steuern: In die Lücke, die der Entwurf des Bundesvorstandes lässt, platzt dann, wenige Stunden nach Bekanntwerden des Entwurfs, der SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, mit einem eigenen Steuerpapier, in dem er den Soli in die Einkommenssteuer integrieren will. 

Bundestagswahlen - Wo sind bloß die Unterschiede? Der Wahlkampf ist eröffnet, doch CDU und SPD halten sich zurück mit klaren Positionierungen. Ein vorläufiger Vergleich.

Den Vorschlag hatte Parteichef Schulz zwar als "Debattenbeitrag" gelobt. Beim Wähler aber dürfte die Konfusion überwiegen. Was will die SPD denn jetzt? Und bis sich die SPD-Spitze kommenden Montag auf eine finale Vision geeinigt haben wird, nutzt der politische Gegner in Ruhe die Zeit, alle Schwachstellen abzuklopfen. Wenn Schulz dann sein Werk vorstellt, stehen die Gegenargumente schon in den frisch verschickten Pressemitteilungen. Eine gelungene Choreografie sieht anders aus.

Politik ist auch die Darstellung von Inhalten. Und daran hapert es bei der SPD-Kampagne gerade. Beispiel Wirtschaftspolitik: Letzte Woche hielt Kanzlerkandidat Martin Schulz eine Grundsatzrede – am Tag nach den Wahlen in Schleswig-Holstein und Frankreich und parallel zu Außenminister Sigmar Gabriel, der ein Buch vorstellte. Weswegen für Schulz nur minimale Aufmerksamkeit blieb. Die CDU sah sich nicht mal genötigt, auf die Rede zu antworten.

Der Streit um die Gerechtigkeit

Das Regierungsprogramm ist für die SPD nun wichtig, weil es endlich ihr gewähltes Kernthema, soziale Gerechtigkeit, konkretisieren soll. Die funktioniert bisher nur über Erzählungen. Martin Schulz bemüht seit Wochen die Geschichte, wonach der Chirurg, der Leben rette, dafür Respekt verdiene, der Busfahrer, von dessen Geschick jeden Morgen ebenfalls Menschenleben abhängen, ebenso. Das ist richtig. Auch Menschen mit durchschnittlichen Einkommen müssen von Politik adressiert werden, das ist Aufgabe einer sozialdemokratischen Partei. Was Schulz unter Respekt versteht (sollen wir unseren Busfahrern morgens die Hand schütteln?), hat er aber viel zu lange im Vagen gelassen, um damit beispielsweise eine der Landtagswahlen zu gewinnen. Im Entwurf wird es nun zumindest angedeutet – Kitagebühren, Bafög und Familiensplitting gehören dazu.

Aber nun, da es konkret wird, wird die Erzählung auch angreifbar. Wolfgang Schäuble beispielsweise könnte entgegnen: Ist es gerecht, dass der Busfahrer mit seinen 2.000 Euro brutto (da liegt etwa das Einstiegsgehalt der Berliner Verkehrsbetriebe) für die griechische Kleptokratie haftet? Und für das Risiko der französischen 35-Stunden-Woche? Und für italienische Banken? Und ist es gerecht, dass der Busfahrer, angenommen, er bildet sich weiter und wird vielleicht Abteilungsleiter, schon bald denselben Spitzensteuersatz zahlen muss, den auch Anzugträger in Frankfurt zahlen? Das sind auch Fragen der Gerechtigkeit. 

Nicht jede Position ist glaubwürdig

Zweitens ist es für die SPD zwar richtig, das Thema Sicherheit nicht allein der CDU zu überlassen. Die Wahl in Nordrhein-Westfalen hat gezeigt, wie wichtig den Wählern das Thema ist. Auch sozialdemokratische Milieus, die sich nicht hinter die Türen von Guarded Communitys verkriechen können, haben auch Recht darauf, dass bei ihnen nicht eingebrochen wird. Doch leider vermittelt die SPD (und ihr Programm) den Eindruck, Getriebene der Ereignisse – und schlimmer noch: der CDU – zu sein. Schlimmstenfalls kostet das politische Glaubwürdigkeit.  

Denn es ist ja so: Die CSU könnte zum Beispiel morgen Frauenquote, Veggie-Day und ein Verbot von Verbrennungsmotoren fordern – ohne damit eine einzige grüne Stimme zu gewinnen. Wähler müssen Positionen mit Personen verknüpfen können. Martin Schulz passt zum Thema soziale Gerechtigkeit – aber passt er auch zum Thema Sicherheit?

Die Konkretisierung der SPD-Forderungen bietet also auch neue Angriffsflächen. Grade deshalb wäre es so wichtig gewesen, zumindest den ersten Aufschlag nicht so zu vergeigen, wie es der SPD jetzt passiert ist.