Nach fünfjährigen Recherchen hat der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin erstmals belegbare Zahlen zu den Toten an der knapp 1.400 Kilometer langen deutsch-deutschen Grenze vorgelegt. Mindestens 327 Menschen sind dort demnach getötet worden; vier von fünf Toten sollen jünger als 35 Jahre gewesen sein. Ein Vorgängerprojekt hatte sich 2009 mit den Mauertoten allein in Berlin befasst; dort starben mindestens 139 Menschen.

"Diese Grenze war, wenn der Zynismus erlaubt ist, noch brutaler als die Berliner Mauer", sagte Projektleiter Professor Klaus Schroeder. "Menschen, die auf Bodenminen traten, sind zerfetzt worden, zum Teil sind sie im Unterholz nicht gesehen worden, Monate später wurden sie skelettiert als Leichen gefunden."

Die Forscher legten ein Handbuch mit Biografien der 327 Toten aus Ost und West vor. Viele von ihnen wurden demnach erschossen, sie wurden von Minen und Selbstschussanlagen getötet oder ertranken in Grenzgewässern. Doch auch Zivilisten ohne Fluchtabsichten aus beiden deutschen Staaten fielen dem DDR-Grenzregime zum Opfer – so etwa der älteste Mauertote, ein 81-jähriger Bauer aus Niedersachsen, der 1967 irrtümlich in ein Minenfeld geriet. Verzeichnet sind zudem Schicksale deutscher und sowjetischer Deserteure, deren Fahnenflucht an der innerdeutschen Grenze tödlich scheiterte.

Möglicherweise bis zu 1.500 Mauertote

Die Dunkelziffer ist weitaus höher: Insgesamt waren die Wissenschaftler in akribischer Arbeit fast 1.500 Verdachtsfällen seit der Gründung der DDR bis zur Grenzöffnung 1989 nachgegangen; dokumentiert haben sie nur die 327 belegbaren Schicksale.

Die Experten untersuchten auch mehr als 200 Suizide, die es in den Grenztruppen gab – mindestens 44 davon waren dienstlich bedingt. "Das war keineswegs eine homogene waffenstarrende Truppe", sagte Co-Autor Jochen Staadt. "Es gab sehr viele junge mutige Männer in den Grenztruppen, die sich geweigert haben, die Waffe gegen Zivilpersonen zu erheben."

Weiter nicht endgültig geklärt bleiben vorerst die Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über die Ostsee oder in andere Ostblockstaaten – hier gehen die Experten von weiteren 200 bis 500 Opfern aus.

Opfer mit Namen und Gesicht

Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) rief bei der Vorstellung des Berichts in Berlin dazu auf, die Erinnerung an die Schrecken des DDR-Grenzregimes wachzuhalten. Dies sei "ein zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur", sagte Grütters.

"Spätestens seit Demagogen, Populisten und Nationalisten auch in Deutschland wieder Beifall für ihre Angriffe auf demokratische Institutionen und Errungenschaften bekommen, ist offensichtlich, wie sehr wir die bitteren Erkenntnisse aus der Aufarbeitung von NS-Terrorherrschaft und SED-Diktatur brauchen", sagte Grütters. "Das historische Wissen liefert für ein 'Wehret den Anfängen' überzeugende Argumente." Die Ergebnisse geben den Opfern wieder Namen und Gesicht, fuhr sie fort. "Das sind wir den Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen."

Das Forschungsprojekt wurde aus dem Haushalt der Kultusstaatsministerin mit 449.000 Euro gefördert. An den Gesamtkosten von 642.000 Euro beteiligten sich auch die Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen.