In den Vereinigten Staaten haben sie eine Seuche ausgelöst, obwohl sie weder hochansteckend noch Mikroben sind: Opioide und Heroin. Die Stoffe sind hochgefährlich, machen rasch abhängig. Das Risiko, an einer Überdosis zu sterben, ist bei keiner anderen Droge größer. Im Jahr 2015 starben in den USA erstmals mit rund 13.000 Menschen ebenso viele daran wie durch Kugeln aus Schusswaffen. Dort sind vergleichsweise viele Menschen von den Substanzen abhängig, die auch in vielen Arzneien und Schmerzmitteln stecken. In Europa ist die Lage bislang kaum dramatisch aufgefallen. Doch es könnte einen ähnlichen Trend geben, schreibt die Europäische Drogen-Beobachtungsstelle EMCDDA nun in ihrem Bericht für Europa: Es komme zu mehr tödlichen Überdosierungen und neue synthetische Opioide tauchten auf dem illegalen Markt auf. Das sei "möglicherweise besorgniserregend", heißt es in dem Bericht (European Drug Report 2017, EMCDDA). Wie ernst ist die Lage in Europa?

In den 28 EU-Mitgliedsländern sowie in Norwegen und der Türkei seien 1,3 Millionen Menschen Hochrisikokonsumenten, gerade einmal 0,4 Prozent der Bevölkerung. Sie gelten als abhängig und rauchen, schlucken, aber vor allem spritzen sich Heroin und ihm ähnliche Stoffe. Zuletzt starben 2015 in Europa 8.441 Menschen nachweislich an einer Drogenüberdosis, 81 Prozent davon hatten Opioide oder Heroin genommen. Keine andere Droge führt zu mehr direkten Todesfällen.

Allerdings werde dabei leicht übersehen, dass es sich unter den Betroffenen vor allem um an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Menschen handele, sagt der Londoner Mediziner und Suchtforscher Adam Winstock. Er leitet den unabhängigen Global Drug Survey, der jährlich Drogennutzer weltweit online nach ihrem Konsum befragt. ZEIT ONLINE hat die aktuellen Daten gerade exklusiv in Deutschland veröffentlicht. "Wer Heroin nimmt, ist meist seit Jahren oder Jahrzehnten süchtig, es gibt nur wenige Erstkonsumenten", sagt Winstock.

Global Drug Survey 2018
ZEIT ONLINE ruft auf zur größten Drogenumfrage.

Die Droge kam in westlichen Ländern in den 1970ern verstärkt auf, einen zweiten Anstieg verzeichneten Mittel- und Osteuropa zuletzt während der 1990er Jahre. Viele Betroffene sind mittlerweile älter als 50 Jahre. Neben ihrem Drogenkonsum geht es den meisten auch gesundheitlich schlecht, viele wurden straffällig, sitzen ein oder leben unter prekären Verhältnissen. Dadurch, dass sich viele der Heroinsüchtigen die Droge spritzen, kommt es unter ihnen häufiger zu Infektionen mit dem Aids-Erreger HIV, Hepatitis C und zu chronischen Leiden. Verschmutztes und geteiltes Spritzbesteck ist ein Grund dafür.

Winstock verwundert es daher nicht, dass die Zahl der tödlichen Fälle unter Heroinabhängigen und Opioidkonsumenten leicht steigt. Gerade in höherem Alter sei das Risiko dafür durch Nebenerkrankungen größer. Die Situation in Europa sei aber keinesfalls mit der in den USA vergleichbar. Dort gebe es vor allem ein Problem mit Arznei- und Schmerzmitteln, die Opioide enthalten, sagt der Forscher. Dies habe zu einer Sucht-Epidemie geführt, wie sie in Europa derzeit nicht denkbar sei, da etwa Medikamente "vernünftiger und zurückhaltender verschrieben werden". Zudem drängt in den USA Heroin etwa aus Mexiko auf den Markt. Dies ist meist billiger zu haben als Opioide in Pillenform. Eine solche Entwicklung gibt es in Europa nicht.

Ersatzstofftherapien verhindern Todesfälle

Einige EU-Staaten betreiben zudem seit Jahren Programme, um Menschen mit Heroinsucht zu behandeln, etwa mit Ersatzstofftherapien, in denen Methadon verabreicht wird. Dies ist auch in Deutschland der Fall. Zusammen mit Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien leben in diesen Ländern 76 Prozent aller Hochrisikokonsumenten des Kontinents. Wo es überwachten Konsum in speziellen Räumen für Süchtige gibt und das Notfallmittel Naloxon ausgegeben wird, zeigen sich die größten Erfolge. Naloxon ist ein Medikament, das bei Überdosierungen Leben retten kann und die Wirkung von Opioiden umkehrt. Allerdings gibt es derzeit in nur sieben europäischen Ländern Drogenkonsumräume und in nur zehn Naloxon-Ausgabe-Programme. "In Großbritannien beobachten wir zudem einen ideologischen drogenpolitischen Druck, solche Programme zu beenden", sagt Winstock. Einige Politiker forderten dort eine Abkehr von der staatlichen Finanzierung, unter anderem mit dem Argument, "Methadon halte Menschen in der Abhängigkeit", sagt der Wissenschaftler. Aus medizinischer Sicht sei das fahrlässig und gefährde Menschenleben.

Der Europäische Drogenbericht warnt zudem vor neuen synthetischen Opioiden. Zwischen 2009 und 2016 seien in Europa 25 solcher Substanzen entdeckt worden. Über sie ist wenig bekannt. Auch Winstock schätzt sie als "beängstigend und unberechenbar" ein – diesen Stoffen sei schwierig zu begegnen. Sie fallen auch unter die Legal Highs, jenen neuen psychoaktiven Substanzen, die in Laboren in immer wieder veränderter chemischer Zusammensetzung hergestellt werden. Deshalb sind sie Behörden oft noch unbekannt und stehen nicht auf den Verbotslisten. Die Europäische Drogen-Beobachtungsstelle EMCDDA überwachte Ende 2016 mehr als 620 dieser Stoffe. Drei Jahre zuvor waren es nur etwas mehr als halb so viele (350). Allerdings verlangsame sich der Trend. Die Rate neu entdeckter Substanzen sinke, wenngleich 2016 noch 66 neue Substanzen aktenkundig wurden. Neue gesetzliche Regelungen und Kontrollen könnten dazu beigetragen haben, mutmaßt die EMCDDA. Vieles werde in China produziert, dortige Labore aber zunehmend geschlossen.

Europas häufigste verbotene Droge: Cannabis

Der Europäische Drogenbericht thematisiert auch die meisten anderen verbotenen Substanzen. Auf den Seiten der EMCDDA wird zudem die Drogensituation in den einzelnen Ländern ausführlich geschildert. Am weitesten verbreitet in Europa ist seit Jahren Cannabis. Nach den neuesten Daten aus dem Jahr 2015 haben 87,7 Millionen aller Europäer (26,3 Prozent) im Alter von 15 bis 64 schon einmal Marihuana geraucht oder geschluckt oder das Harz der Hanfpflanze (Haschisch) konsumiert. Im Jahr vor der Erhebung griffen 23,5 Millionen zu Cannabis. In Europa ist Hanf weitestgehend verboten, Konsumenten werden strafrechtlich verfolgt, auch wenn es in manchen Ländern, wie auch in Deutschland, in geringen Mengen zum Eigenkonsum toleriert wird.

Seit Jahren wird auch hierzulande über einen legalen und regulierten Markt für die Droge diskutiert. Zuletzt forderten erneut die Grünen und insbesondere ihr Bundesvorsitzender Cem Özdemir in einem auf ZEIT ONLINE veröffentlichten Brief zu einer drogenpolitischen Wende auf. Im Kern geht es um die Entkriminalisierung und regulierte Freigabe von Cannabis, um den Schwarzmarkt einzudämmen und Jugendliche besser zu schützen. Zudem würde die Polizei vor allem Konsumenten statt Dealer verfolgen, ohne dass dies die Zahl derer, die Cannabis nehmen, verringern würde. 80 Prozent der jährlich rund 145.000 allgemeinen Cannabisdelikte entfallen auf den Gebrauch und nicht den Handel mit der Substanz (Polizeiliche Kriminalstatistik 2016). 

Cannabis ist wie jede Droge nicht ungefährlich, allerdings verursacht sie im Vergleich zu den meisten verbotenen Substanzen sowie den erlaubten Stoffen Alkohol und Tabak in weniger Fällen langfristige, schwere gesundheitliche Schäden wie eine Sucht (siehe auch das Drogen-Glossar unter diesem Absatz).

Für Deutschland fordern seit Jahren Strafrechtler, Politiker, Präventions- und Suchtforscher sowie Menschen, die mit Menschen arbeiten, die Drogen nehmen, eine veränderte Drogenpolitik. Anfang Juni veröffentlichte zudem der Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik (akzept e.V.) ihren Alternativen Drogenbericht 2017. Darin gehen die Autoren sowohl auf die Kriminalisierung von Menschen ein, die verbotene Substanzen konsumieren, als auch auf die Notwendigkeit, die Schäden von Drogengebrauch zu minimieren.

Unter anderem kritisieren die Autoren den Umgang mit Heroinabhängigen und Suchtkranken in Deutschland als unzureichend. So gebe es in lediglich sechs Bundesländern spezielle Drogenkonsumräume und auch die Ausgabe des Notfallmittels Naloxon sei unzureichend geregelt. Daneben fordern sie mehr Aufklärung über verbotene Substanzen und Möglichkeiten für Konsumenten, diese auf Inhaltsstoffe testen zu lassen. Sie verstehen Drogenpolitik zuallererst als Gesundheitspolitik.