Wildtiere und Mordtaten

Agnieszka Holland ist mit dem Film «Pokot» («Jagdstrecke») die erste heisse Bären-Anwärterin. Sie brilliert mit rabenschwarzem Humor.

Susanne Ostwald
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Agnieszka Holland ist mit ihrem «Pokot» eine Anwärterin auf einen Bären. (Bild: Palka Robert)

Agnieszka Holland ist mit ihrem «Pokot» eine Anwärterin auf einen Bären. (Bild: Palka Robert)

Filmfestivals bieten in konzentrierter Form einen vielfältigen Blick auf politische, wirtschaftliche und private Krisenherde in aller Welt; sie schauen in die Geschichte und in die Zukunft, sie betreiben Gegenwartsanalyse. Und dann gibt es manchmal Filme, die all dies alleine erfüllen. Ein solches Kunststück ist der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland gelungen. Die 68-jährige Filmemacherin hat mit «Pokot» («Jagdstrecke») den formal wie thematisch bisher frischesten Film dieser Berlinale vorgelegt und ihr Publikum auf eine Rutschbahn der schiefen Moralität geführt.

Hollands eigenwillige Mordgeschichte spielt im ländlichen Idyll an der polnisch-tschechischen Grenze, wo indes vieles im Argen liegt. Duszejko, eine pensionierte Ingenieurin und Lehrerin, führt ein Leben im Einklang mit der Natur und den Wildtieren. Eine liebenswerte, esoterische Spinnerin ist sie, die ungefragt Horoskope erstellt und deren beste Freunde ihre beiden Hunde sind – bis diese plötzlich verschwinden.

Und sie sind nicht die Einzigen. Der Polizeichef des Ortes wird tot aufgefunden. Ebenso der Bürgermeister. Sowie der Priester. Und ein notorischer Wilderer. Ein Sumpf an Amoralität und Verderbtheit, Lügen und Gier, Heuchelei und Grausamkeit tut sich im Laufe der Ermittlungen auf, scharf beobachtet von Duszejko, der Dorfverrückten, aber auch moralischen Instanz des Ortes.

Ätzende Gesellschaftssatire

Agnieszka Holland ist nichts heilig, und sie schafft in ihrem Film eine unbequeme Atmosphäre der moralischen Ambiguität, bei der ausnahmslos alle ethischen Standards auf den Prüfstand gestellt werden – eines jeden Motive sind egoistisch, Altruismus bleibt ein wohlfeiler Traum. Es ist eine ätzende Gesellschaftssatire, die Holland uns präsentiert, eines Thackeray durchaus würdig. Auch hier, so wie in dessen epochemachendem Roman «Vanity Fair», bildet sich im Kleinen eine ganze Welt des Wohlmeinenden und der Schlechtigkeit ab. Umweltbewusstsein mündet in ökologische Rigorosität, utopische Lebensentwürfe scheitern an postsozialistischer Korruption, althergebrachte Strukturen werden ausgehebelt mit den Möglichkeiten des Cyber-Terrors.

Mit rabenschwarzem Humor, den filmischen Mitteln des Thrillers und einem stilistischen Mix aus Naturalismus und Surrealismus unterläuft Holland alle Erwartungen an ein «Whodunnit». Wer die Morde begangen hat und mit welchen Mitteln, ist ein echtes Knallbonbon am Schluss. Die Regisseurin nimmt sich Zeit für stimmungsvolle Naturbilder wie auch rasante, musikalisch gewieft befeuerte Spannungssequenzen, hervorragend ins Licht gesetzt vom Kameramann Dop Jolanta Dylewska. Dem Jurypräsidenten Paul Verhoeven, ein Regisseur, der selber gerne die Konventionen durchkreuzt und das Spannungskino schätzt, dürfte dieser Film gefallen. In einem guten, aber bisher nicht überdurchschnittlichen Wettbewerb hat sich «Pokot» als erster Film wärmstens für den Goldenen Bären empfohlen.

Moralische Beunruhigung

Agnieszka Holland hat sich im Laufe ihrer Karriere einen Namen als Grenzgängerin der Genres gemacht, die immer wieder durch ihre Stoffwahl überrascht. Sie hat das Holocaust-Drama «Hitlerjunge Salomon» (1990) gedreht, die elegante und prominent besetzte Henry-James-Adaption «Washington Square» (1997) – und jüngst auch zwei Episoden der preisgekrönten TV-Serie «House of Cards» inszeniert. Sie hat mit Krzysztof Kieslowski und Andrzej Wajda gearbeitet und gehörte in den siebziger Jahren zu den Pionieren des Neuen Polnischen Films sowie des sogenannten «Cinema of Moral Disquiet». Die moralische Beunruhigung ist ihr Kerngeschäft geblieben, wie ihr durchtriebener neuer Film zeigt.