Goldene Palme für Gesellschaftssatire «The Square»

Christian hat nie Kleingeld für Bettler, aber er fährt ein ökologisch korrektes Elektroauto. Wie altruistisch ist Christian, sind wir alle, wirklich? Der schwedische Regisseur Ruben Östlund geht der Frage nach – und gewinnt damit beim Filmfestival in Cannes den Hauptpreis.

Susanne Ostwald
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Der schwedische Regisseur Ruben Östlund erhält in Cannes die Palme d'Or für «The Square. (Bild: Eric Gaillard / Reuters)

Der schwedische Regisseur Ruben Östlund erhält in Cannes die Palme d'Or für «The Square. (Bild: Eric Gaillard / Reuters)

Ein Mann kämpft mit den Tücken des Alltags – und mit seinem Anspruch, diesen möglichst allgemeinverträglich zu gestalten. Christian ist Kurator im Stockholmer Museum für zeitgenössische Kunst, und er liebt es, hart am Wind zu segeln. Gerade bereitet er eine neue Ausstellung mit dem Titel «The Square» vor – und so heisst auch der Film von Ruben Östlund, für welchen der 1974 geborene schwedische Regisseur am Sonntagabend die Goldene Palme gewonnen hat. Es ist eine nicht unbedingt erwartete, aber sehr gute Entscheidung. Denn die Gesellschaftssatire trifft einen Nerv der Zeit und stellt die Frage, wie ehrlich wir es mit der vielbeschworenen Empathie wirklich meinen.

Der gute Wille

Wie altruistisch handeln wir wirklich, wenn wir Gutes tun (wollen)? Wie dünn der Firnis über dem Eigennutz und der Eitelkeit ist, demonstrierte Östlund schon in seinem letzten Film, «Turist» (2014), über einen Familienvater, der im Angesicht einer Naturkatastrophe zuerst an sich und zuletzt an seine Familie denkt. Auch der Protagonist seines neuen Films ist ein unsicherer Kantonist. Dieser Christian hat (wie die meisten Schweden) kein Kleingeld in der Tasche, wenn er einen Bettler sieht (der gute Wille ist freilich vorhanden), aber immerhin fährt er ein ökologisch korrektes, sehr teures Elektroauto. Die neue Ausstellung soll die Besucher direkt mit der Frage konfrontieren, wie sie es selber mit dem Mitgefühl halten. Doch Christian (Claes Bang) hat die Rechnung ohne seine PR-Abteilung gemacht, die ein so provokantes Video ins Netz stellt, dass ein Shitstorm sondergleichen über ihn hereinbricht.

Es ist ein Film, so böse wie wichtig. Schon an der Berlinale setzte sich in diesem Jahr mit dem ungarischen Film «Teströl és lélekröl» ein Werk durch, das sich mit der Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit beschäftigt. Doch Östlund geht in seiner Satire weiter, bis an die Schmerzgrenze. Das in jeder Hinsicht Affige spielt in seinem Film eine nicht zu unterschätzende Rolle, so wie bei einem Fundraiser fürs Museum, das völlig aus dem Ruder läuft – und den Menschen an sein im Grunde primitives Wesen erinnert. Je stärker sich Christian bemüht, mit Vernunft den Herausforderungen seines zunehmend komplizierten Lebens zu begegnen, desto tiefer versinkt er im Schlamassel. Das ist ziemlich bitter.

Empathie als Trendthema

So setzt sich der Trend der Berlinale fort: Empathie ist das Thema der Stunde und hat in Cannes auch andere Entscheidungen der Jury bestimmt. Etwa den verdienten Regiepreis für Sofia Coppolas rabenschwarzes Bürgerkriegsdrama «The Beguiled», das ebenfalls das Thema der Anteilnahme gegen den Strich bürstet. Ihre Protagonistinnen retten einen verletzten Soldaten zunächst, verführen ihn dann – um ihm später, als er unbequem wird, ein unbekömmliches Pilzgericht vorzusetzen. Den wichtigen Grossen Preis der Jury gewinnt ein Drama, das den Kampf HIV-positiver Aktivisten in den neunziger Jahren nachzeichnet – und das ebenso ins grosse Thema dieses Jahrgangs passt wie der Jurypreis für das von der Filmkritik hoch gehandelte russische Gesellschaftsdrama «Loveless» über ein egoistisch gesinntes Paar, das sein Kind vernachlässigt – bis dieses verschwindet.

So findet das Festival zu einem recht befriedigenden Abschluss, obschon es das im Ganzen nicht war. Nur selten war der Wettbewerb so schlecht besetzt wie in diesem Jahr. Thierry Frémaux, künstlerischer Leiter in Cannes, setzt auf das Immergleiche: auf Genrekino, brave französische Biopics, politisch korrekt aufgearbeitete Zeitgeschichte – und auf die altbekannten Wettbewerbsteilnehmer. Noch nie ergriffen in so vielen Vorstellungen grosse Teile des Publikums vorzeitig die Flucht aus dem Kino. Ist das noch Cannes?

Freilich gab es auch wahre Sternstunden. Unverständlich ist, dass Naomi Kawase mit ihrem bestechenden Film «Hikari», der gleichfalls die Empathie feiert und zudem reine Kino-Poesie destilliert, völlig leer ausging. Die Jury, ein wundersames Geheimgremium.

Zum Dossier 70. Filmfestival Cannes

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