Interview

«Was uns heute fehlt, ist Zuversicht»

Die Idee einer immer besser werdenden oder gar sich vollendenden Zukunft hat heute alles andere als Konjunktur. Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan über die Utopien als Lebenselixier und als tödliches Gift.

Achim Engelberg
Drucken
«Bosnien ist eine Schöpfung der Kultur, kein politisches Projekt.» – Der Schriftsteller Dževad Karahasan. (Bild: Isolde Ohlbaum)

«Bosnien ist eine Schöpfung der Kultur, kein politisches Projekt.» – Der Schriftsteller Dževad Karahasan. (Bild: Isolde Ohlbaum)

Vor einem halben Jahrtausend erschien Thomas Morus' «Utopia». Zwar gab es schon in der Antike ideelle Entwürfe, aber mit Morus beginnt die Geschichte der modernen Utopien. Vor 100 Jahren versuchte die russische Oktoberrevolution, eine vermeintlich wissenschaftlich begründete Utopie zu verwirklichen. Wozu braucht der Mensch denn überhaupt Zukunftswelten?

Nicht unbedingt Zukunftswelten, aber sicherlich eine bessere Welt. Der Mensch ist ein metaphysisches Wesen; unsere Seele erinnert sich an das Paradies, in dem sie einst weilte (wenn Platon denn recht hatte). Wir kommen auf die Welt mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nach einer Welt, in der Tugend und Wahrheit belohnt werden, daher entwickeln wir unsere Utopien. Platons Staat, der Gottesstaat des Augustinus, die vortreffliche Stadt des Abu Nasr al-Farabi – all das sind Utopien, also Entwürfe einer besseren Welt, nach der sich unsere Seele sehnt.

Vergessen Sie nicht, auch Literatur gehört seit Tausenden von Jahren zu dieser Geschichte. Manchmal erzählt sie von der Welt, wie sie ist, ein andermal leistet sie Widerstand gegen eine unerträgliche Wirklichkeit. Während der Belagerung Sarajevos schrieb ich an meinem «Buch der Gärten».

Während der Hölle des Bosnienkrieges, als angebliche orthodoxe Christen und Muslime kämpften, verfassten Sie ein Buch der «Grenzgänge zwischen Islam und Christentum», worin Sie feststellten, dass beide Religionen das Paradies sich als Garten vorstellten. Warum?

Der Geist artikuliert immer Ideale, damit wir uns eine bessere Welt vorstellen können. Dennoch gibt es eine historische Grenze: Vor der Moderne versuchten die Menschen nicht, Utopien umzusetzen. Erst mit dem Rationalismus, mit der Moderne, in der sich die Menschen für Gott erklärten, versuchen sie, Utopien zu verwirklichen.

Thomas Morus schrieb im Gewand der Ironie eine Zukunftsvision, aber noch keine Gebrauchsanweisung. Kann man diesen Bruch auch so charakterisieren, dass die alten Utopien zurückwollten ins Paradies – man denke nur an: «Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?»; die Idee des Neuen ist mit dem Fortschritt verbunden.

Die Moderne behauptet: Das Paradies liegt vor uns, wir werden es aufbauen. Revolution bedeutet Rückkehr zum Ursprung, jedoch versprechen alle Revolutionen, die Menschheit ins Paradies zu führen, das vor uns, in der Zukunft, liegt. Da wird es gefährlich, denn das Leben ist nun einmal mehr als Ratio. Denken Sie dabei auch an Auseinandersetzungen in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Man könnte den Kristallpalast aus Tschernyschewskis Roman «Was tun?» als Vorwegnahme eines erschreckenden Ideals unserer Zeit betrachten – transparente Welt mit transparenten Menschen zu bevölkern.

Tschernyschewskis Traum ist heutzutage schon beinahe verwirklicht – wir nähern uns einer Welt ohne Geheimnisse, voller Menschen ohne Geheimnisse an, transparent und zweidimensional, als wäre alles aus Glas oder Kristall gemacht. Dostojewski polemisierte in seinen «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch» gegen Tschernyschewski. Leben kann man nicht im Voraus entwerfen.

Aufgrund ebendieser Kritik lehnte der Tschernyschewski-Verehrer Lenin auch Dostojewskis «Dämonen» ab.

Genau. Ist dieser Roman nicht die Vorwegnahme der russischen Revolution?

Sicher. Die kommunistische Utopie und ihr Scheitern erläutern Sie aber vor allem mit Andrei Platonow. Gerade ist eines seiner Hauptwerke, «Die Baugrube», bei Suhrkamp neu übersetzt erschienen, die Platonow-Rezeption scheint im deutschsprachigen Raum gerade erst zu beginnen. Was unterscheidet den Autor von anderen, die das gleiche Feld beackerten?

Andrei Platonow und Michail Bulgakow sind meine Lieblingsautoren in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass Bulgakow ein meisterhafter moderner Schriftsteller ist und Platonow ein Mythograf.

Bulgakow erzählt eine Geschichte, konstruiert ein Sujet, sein Leser bildet sich, amüsiert sich, erlebt eine wunderbare, literarisch gestaltete Spannung. Nichts davon findet man bei Platonow. Der will keine Geschichte erzählen, sondern Mythen. Sein Leser wird mit dem Wesen des menschlichen Daseins konfrontiert: Warum leben wir? Wohin gehen wir? Wie sollen wir unser Leben auf der Erde gestalten, damit es einen Sinn haben kann?

Bulgakow begegnet der kommunistischen Utopie ironisch. Das Leben ist für ihn viel zu komplex, als dass es auf soziale Gerechtigkeit oder Herrschaft der Armen reduziert werden könnte. Platonow dagegen glaubt felsenfest an den Kommunismus. Und gerade dieser war der Mythos, mit dem er sich befasste. Jedes einzelne Leben sollte einen Sinn haben. Die Revolution sollte nicht nur Machtverhältnisse in der Gesellschaft verändern, sondern auch die Natur anders gestalten. Platonow nimmt die kommunistische Religion ernst und erklärt Sonne und Mond zu Himmelsarbeitern. Seine ganze Welt ist beseelt. Selbstverständlich wird er von einem gewissen Zeitpunkt an enttäuscht, aber der unerschütterliche Glaube an eine Utopie macht ihn zu einem grossen Mythografen.

Beim Platonow-Leser Heiner Müller heisst es: «Der Text ist klüger als der Autor.» In «Baugrube», die 1930 entstand, sind die grossen Schrecken schon alle in prophetischer Weise enthalten.

Heiner Müller hatte ohne Zweifel recht, denn ein literarisches Werk entsteht durch die Spannung zwischen dem Autor, seinem Konzept, seinem Material und der Sprache. Die Sprache müssen Sie mit vielen teilen, das heisst, durch die Sprache, durch das Material arbeiten an einem literarischen Werk viele mit. Wenn das Werk am Ende dem Konzept des Autors hundertprozentig entspricht, ist es ein schlechtes Werk. Es muss etwas anderes sein. Die grossen Werke Platonows waren eine Vorahnung des Scheiterns. Die Menschen sind nicht imstande, eine Utopie zu verwirklichen. Vergessen wir nicht, dass jeder Glaube, wenn er aufrichtig ist, eng mit Skepsis verbunden ist. Platonow zweifelte, weil er glaubte.

Seit wann lesen Sie diesen Autor?

Seit 1975 – ich war im dritten Studienjahr. Damals kam eine Übersetzung einiger seiner Erzählungen in Belgrad heraus. Die zufällige Lektüre machte einen starken Eindruck auf mich, und über Bekannte in Moskau bestellte ich alles, was ich bekommen konnte. So bekam ich «Das Volk Dshan» in die Hand, den ersten Roman, den ich von ihm las und der auf meine Initiative in Jugoslawien übersetzt worden ist. Schliesslich die beiden zentralen Romane «Tschewengur» und «Die Baugrube».

Keiner fuhr in den siebziger Jahren mehr nach Moskau, um die Verwirklichung einer Utopie mitzuerleben. Anders sah es in Jugoslawien aus. Dorthin reisten Schriftsteller und Philosophen. Wie erlebten Sie das?

Jugoslawien war in dreifacher Hinsicht der Versuch, eine Utopie zu verwirklichen. Erstens wollte man den Weg zum Kommunismus einschlagen, zweitens in Form eines Vielvölkerstaates eine europäische Union vorwegnehmen und drittens, was für mich am wichtigsten war und ist, die Selbstverwaltung verwirklichen. Letztere war damals die Hoffnung aller linken Intellektuellen Europas, ja, ohne zu übertreiben, der Welt.

Es ist beeindruckend, wer alles nach Jugoslawien reiste: Von Norman Birnbaum bis Ernst Bloch, von Erich Fromm bis Herbert Marcuse entsteht ein «Who is who» engagierter linker Intellektueller.

Die Idee der Selbstverwaltung ist grossartig: Leute, die in einer Firma arbeiten, sollen ihr Schicksal in der Hand haben. Menschliche Arbeit muss mehr wert sein als Kapital. Lasst uns die, die Kapital gegeben haben, entschädigen, aber jetzt muss die Firma denjenigen gehören, die darin arbeiten. Ich kann gut verstehen, dass man von dieser Utopie begeistert sein kann. Persönlich war ich schon damals zu sehr ein Schriftsteller, der dem Leben skeptisch gegenübersteht. Von allen Utopien ist mir aber die der Selbstverwaltung am nächsten. Leider wurde in den 1970er/1980er Jahren immer deutlicher, dass auch sie nicht erfolgreich verwirklicht werden kann.

Vielleicht sind Utopien gar nicht dazu da, Wirklichkeit zu werden, sondern dazu, den Möglichkeitssinn zu schärfen. Wie das Leben selber sind Utopien ambivalent: Sie können Katastrophen auslösen, aber auch die Möglichkeit eines besseren Zusammenlebens eröffnen. Brauchen nicht die Bewohner Ihres Landes einen neuen Traum, um die triste Realität in Bosnien-Herzegowina umzugestalten?

Da bin ich ein schlechter Gesprächspartner, ich bin allzu sehr voreingenommen. Wenn ich jedoch antworten soll, so sage ich, dass wir vor allem Erinnerung an unsere eigene Vergangenheit brauchen. Bosnien ist eine Schöpfung der Kultur, kein politisches Projekt. Jahrhundertelang lebten die Leute verschiedener Religionen, Nationalitäten und Kulturen zusammen. So mussten sie begreifen, dass es in ihrem Interesse ist, Andersgläubige und Andersdenkende als Nachbarn zu haben, denn nur so können sie sich selber definieren und erkennen. Ich will, dass mein bester Freund, der Franziskaner Mile Babic, in Sarajevo bleibt und sich da zu Hause fühlt – nicht weil ich nett bin, sondern weil ich von seiner Anwesenheit profitiere.

Muss man für unsere aus den Fugen geratene Welt den kritisch-analytischen Gehalt von Utopien stärker berücksichtigen? Etliche bestehen aus zwei Teilen: einer Analyse des Bestehenden und einem Entwurf einer Alternative. Immer, wenn es heisst, dass Marx doch recht gehabt habe, findet man suggestive Formulierungen aus dem ersten Teil des «Kommunistischen Manifests», der zweite Teil wird kaum zitiert. Er ist bis auf wenige Formulierungen veraltet. Dennoch glaube ich, nur von einer Position der Alternative her ist radikale Kritik möglich. Ohne das Seefahrer-Märchen des zweiten Teils hätte Thomas Morus den ersten Teil nicht schreiben können.

In der Tat. Utopie macht es möglich, aus einer Distanz heraus das Gegebene anzusehen und zu verstehen. Man kann die Gesellschaft wie ein Fremder betrachten. Ohne den Blick von aussen kann man sich selber nicht begreifen.

Einen verfremdenden Blick haben auch literarische Antiutopien wie Orwells Roman «1984». In welchem Verhältnis stehen sie zu Utopien?

Bis zur Moderne gab es keine Antiutopien. Es gab naive und literarische Utopien, das Schlaraffenland als Traum eines ermüdeten Bauern von einem Land, wo man, ohne zu arbeiten, gut und viel essen kann, oder etwa die Schäferidyllen von Theokrites. Antiutopien entstanden erst, als man versuchte, Utopien zu verwirklichen. Eine der massgeblichen Dystopien ist Samjatins «Wir», geschrieben in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution. So wunderbar eine Utopie auch sein mag, sie reduziert die ungeheure Komplexität des Lebens auf wenige Dimensionen.

In seinem Frühwerk schrieb der Ungar Georg Lukács: «Jeder Versuch, das Utopische als seiend zu gestalten, endet nur formzerstörend.» Wenige Jahre später engagierte er sich selber als Kommunist bei solchen Versuchen.

Ironisch gesagt: Es ist ihm nicht gelungen, einen guten Roman zu schreiben, also versuchte er, die Welt zu reorganisieren. Jeder Versuch, eine Utopie zu verwirklichen, führt notwendigerweise zu Selektionen. Das ist das Verdammte an Revolutionen. Nehmen Sie Robespierres Religion der Vernunft. Ist das nicht eine Contradictio in adiecto? Religion setzt voraus, dass man etwas nicht verstehen kann. Für einen Fundamentalisten darf es in seinem Glauben nichts Unverständliches mehr geben – alles, was er nicht versteht, soll weg.

Aber Fundamentalisten wie Revolutionäre, oft in einer Person vereint, betreten erst die Bühne, wenn alte Ordnungen sich auflösen. Die einen wollen den Verfall aufhalten, die anderen die Geburt des Neuen beschleunigen. In welcher Situation stehen wir heute?

Fundamentalismen und Utopien haben wir in unseren Tagen zur Genüge. Für mich ist entscheidend, dass der einzige Zweck des Lebens das Leben selber ist. Vernunft ist grossartig, aber sie kann nicht alles erklären. Was man nicht verstanden hat, daran kann man glauben. Wenn man es verstanden hat, ist es kein Glaube mehr. Wenn – Gott behüte! – unsere Kultur stirbt, lassen wir sie sterben mit Hochachtung und in der Gewissheit, dass aus ihrem Leichnam wieder etwas Grossartiges entstehen wird. Der Tod des einen ist die Geburt des anderen. Was uns heute fehlt, ist Zuversicht. Freuen wir uns über das Verständliche und das Unverständliche in der Welt und in unserem Leben.

Interview: Achim Engelberg