Wo bleibt der Mut zum Streit?

Trauerspiel in der Gessnerallee: Das Podium mit dem Afd-Politphilosophen Marc Jongen ist abgesagt. Die «Progressiven» frohlocken. Und zeigen dabei doch nur, dass sie in ihrem autoritären Auftreten dem politischen Feind immer ähnlicher sehen.

Jörg Scheller
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Der Vorhang bleibt geschlossen: Hier findet keine kritische Auseinandersetzung statt. (Bild: Damir Sagolj / Reuters)

Der Vorhang bleibt geschlossen: Hier findet keine kritische Auseinandersetzung statt. (Bild: Damir Sagolj / Reuters)

Die verquere progressive Logik geht so: Wenn eine Kulturbühne einen Politphilosophen mit nationalistischem Programm sprechen lässt, dann hat die Kultur schon verloren. Denn durch seine blosse Diskussionsbereitschaft nobilitiert der Kulturbetrieb die unhaltbaren Haltungen neokonservativer Kräfte.

Bei deutschen und schweizerischen Kulturschaffenden schrillten darum die Alarmglocken, als das Theater Gessnerallee ankündigte, im März 2017 eine echte Diskussion veranstalten zu wollen. Eingeladen waren Laura Zimmermann und ich von der Operation Libero einerseits, Marc Jongen von der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland und der rechtslibertäre Politaktivist Olivier Kessler anderseits. Hunderte Kulturschaffende haben sich zusammengetan und das Podium in einem offenen Brief nicht nur gegeisselt, nein, sie forderten rundheraus Zensur: Die Veranstaltung dürfe nicht stattfinden, da sie eine Verharmlosung des Gegners und Fraternisierung mit ihm impliziere.

Gut gebrüllt, nur leider völlig daneben.

Wenn etwas nicht zur Renaissance des Reaktionären beigetragen hat, dann der innige Austausch zwischen linksprogressiven Kulturschaffenden, Rechtskonservativen und Reaktionären. Gerade das Auseinanderdriften der Milieus und zunehmend um sich selbst kreisende Diskurse haben dazu geführt, dass man sich heute aus den jeweiligen Schützengräben heraus lieber mit Fernstreckenwaffen bombardiert – und zwar nicht erst, wenn es kurz vor zwölf ist. Nichts geht über eine gut organisierte Komfortzone.

Der Wert der Nebenbühnen

Diskussionen fanden an anderer Stelle statt: erst sporadisch, dann nachgerade inflationär in den Massenmedien, zumeist in Talkshows, wo die auf Krawall gebürsteten Wutbürger die besseren Karten hatten. In einem Theater mit einem überwiegend linken, urbanen und alternativen Publikum hätte der Fall anders gelegen. «Normalisierung» oder «Salonfähigkeit» der neuen Rechten durch kritische Debatten an Theaterhäusern zu befürchten, ist in einer Zeit, da sich reaktionäre Parteien längst weltweit etabliert haben, irgendwie, wie soll man sagen – verspätet?

Um das Gerücht endgültig aus der Welt zu schaffen: Nein, Donald Trump hat seinen Wahlsieg nicht der naiven Schützenhilfe durch verträumte Konzeptkünstler oder schlafwandlerische Kulturjournalisten zu verdanken, die sich nach der Lektüre des Wikipedia-Eintrags über Jürgen Habermas dachten: Reden wir mal in Ruhe mit denen, dann wird das schon.

Natürlich wäre es auch im Theater Gessnerallee nicht darum gegangen, eine öffentliche Bekehrung, gleichsam eine Wunderheilung vorzunehmen, infolge deren sich der Rechtslibertäre Olivier Kessler unter Tränen in einen demütigen Billag-Zahler und Marc Jongen in einen glühenden Anhänger der Gender-Theorie Judith Butlers verwandelt hätte.

Aber auf Nebenbühnen lässt sich schlicht besser streiten als in der Spektakelmaschine der Fernsehanstalten. Die Auseinandersetzung ist fokussierter und produziert idealerweise Dokumente, auf welche man die Teilnehmenden im Ernstfall verpflichten kann. So hätte in der Gessnerallee darüber debattiert werden sollen, was die zunehmend willkürlich verwendeten Begriffe wie «liberal», «konservativ» oder «progressiv» für die Teilnehmenden denn eigentlich bedeuten. Und debattiert werden muss nun mal – was wäre denn die Alternative? Einweisung der Gegner in Umerziehungsanstalten? Ausblendung oder Ächtung?

Wozu Diffamierung und Pathologisierung führen, kann man gegenwärtig in den USA beobachten. Jene, die Hillary Clinton in ihrem Wahlkampf die «deplorables», die «Bemitleidenswerten», nannte, ziehen sich in ihre Filterblasen zurück, wo sie auf keinen Widerspruch stossen, sich radikalisieren und auf eine günstige Gelegenheit zur Revanche warten. Auf eine paradoxe Formel gebracht: Natürlich sind nicht alle Meinungen und Haltungen derselben ernsthaften Reflexion geschuldet. Ernst nehmen muss man sie trotzdem. Sonst tun sie es selbst.

Autoritäre Tendenzen

In der Auseinandersetzung um das geplante Podium in der Gessnerallee zeigte sich, dass den Kritikern autoritäre Mittel nur zu recht sind, um vermeintliche Antidemokraten und Autoritäre zu bekämpfen. Manche drohten mit der Absage bereits geplanter Theaterproduktionen oder mit Störaktionen, manche verzerrten Äusserungen der Initiatoren, manche riefen zum Boykott auf.

Vor allem aber entfesselten sie ein gewaltiges Medienspektakel, anstatt den naheliegenden, nämlich demokratischen Weg einzuschlagen: zum selben Tag, zur selben Zeit in Zürich eine Gegenveranstaltung zu organisieren, auf der die Gegner hätten zeigen können, wie die Auseinandersetzung mit dem Populismus aus ihrer Sicht richtig geführt werden müsste. Das Publikum hätte dann eine Entscheidung treffen können, anstatt dass für es entschieden worden wäre. So hätte man Stärke demonstriert, anstatt Jongen zum «Sieger» einer Debatte zu erklären, die noch gar nicht stattgefunden hatte – und unter Beweis zu stellen, dass auch im linken Lager vor allem eines regiert: Angst.

Aber um all das geht es längst nicht mehr. Auf erschreckende Weise hat sich am Ende eine Logik durchgesetzt, für die sich Carl Schmitt, zwischenzeitlich Hofjurist der Nazis, einst starkgemacht hatte: eine starre Einteilung in Freund und Feind. Mit Gegnern streitet man, Feinde hingegen verdienen keinen Streit, sondern gehören mundtot gemacht, also politisch vernichtet. Zwischenbestimmungen und Grauzonen werden mit dem Totschlagargument «naiv» hinweggefegt. Wer mit Jongen öffentlich debattiert, ist selbst Jongen!

In paternalistischer Manier wurde sowohl Laura Zimmermann wie auch dem Autor dieses Textes, obwohl er zuvor in Artikeln scharf gegen Jongen und reaktionäre Bewegungen geschossen hatte, abgesprochen, diese glaubhaft kritisieren zu können – schliesslich seien beide nicht explizit links. Den angeblich mit intellektuellen Superkräften ausgestatteten Karlsruher AfD-Mann zu bezwingen, vermöchten nur entsprechend geschulte Fachkräfte aus der eigenen Szene.

Mit derselben Logik könnte man behaupten, nur ein Atheist könne einen Strenggläubigen für dessen Fundamentalismus kritisieren – nicht aber ein Agnostiker. Und dass eine Linksliberale wie Laura Zimmermann auch feministische oder gar migrantische Anliegen vertreten könnte – undenkbar! Wie in einer Radiosendung zu vernehmen war, habe auf dem Podium die «Stimme einer starken Frau» gefehlt – was im Klartext bedeutet, dass Zimmermann, die sich jüngst souverän in einer öffentlichen Diskussion gegen Verleger und SVP-Nationalrat Roger Köppel behauptet hatte, ex cathedra als «schwache Frau» verunglimpft wurde.

Es scheinen Zeiten anzubrechen, in denen Zwischentöne und Skepsis als Zeichen von Schwäche ausgelegt werden und eine romantische Sehnsucht nach klaren Fronten aufwallt. Von rechtsautoritären Zeitgenossen kennt man das. Wenn aber ihre angeblichen Gegner sich ihnen anverwandeln und, so Wolfgang Ullrich kürzlich auf Twitter, «eine Kultur der Bekenntnisse statt einer Kultur des Streites» verfechten, wie es in der Kontroverse um das Podium der Fall war – nun ja, dann verwandelt sich jedes noch so progressive Theaterstück zwangsläufig in ein Trauerspiel.

Jörg Scheller ist promovierter Kunstwissenschafter und Dozent für Kunstwissenschaft und Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste.