Wie man aus Tönen Torten macht

Es gilt als erstes Konzeptalbum der Pop-Musik: «Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band». Mit diesem Werk haben die Beatles vor fünfzig Jahren neue technische und künstlerische Möglichkeiten erschlossen.

Ueli Bernays
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Die Beatles – bunt uniformiert für ihre neue psychedelische Kunst. (Bild: pd)

Die Beatles – bunt uniformiert für ihre neue psychedelische Kunst. (Bild: pd)

Ist Pop Kunst? Und wenn ja – ist das von Vorteil? Fest steht jedenfalls, dass Langspielplatte und Studiotechnik der Pop-Musik Impulse verliehen, die sie in den sechziger Jahren von der Party weg in Richtung autonome Kunst trieben – und auch in Richtung Künstlichkeit. So wird «Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band», das vor fünfzig Jahren erschienene, wohl berühmteste Studioalbum der Beatles, von den einen als bedeutendste Pop-Platte aller Zeiten gefeiert.

Skeptikern scheint die Musik hingegen überproduziert. Sie glauben, dass die Vitalkräfte des Rock'n'Roll in der Sterilität der Abbey Road Studios verpufften. «How The Beatles Destroyed Rock'n'Roll» (2009) etwa heisst ein Buch des Pop-Publizisten Elijah Wald, das zeigen soll, wie urwüchsige Musikalität durch falsche künstlerische Ambitionen erstickt wurde.

Ist Pop Kunst? Sicher ist, dass ambitionierte Pop-Musiker wie andere Künstler danach streben, ihr Können zu erweitern, ihre Ausdrucksformen zu vermehren. Gerade deshalb hatte Ringo Starr Mitte der sechziger Jahre die Nase voll von chaotischen Konzerten, an denen die Beatles regelmässig von kreischenden, heulenden Susen bestürmt wurden, denen es genügte, ihre Idole bloss zu sehen – zu hören waren sie nämlich immer weniger.

Je grösser die Stadien, in denen die Pilzköpfe auftraten, desto prekärer die akustischen Verhältnisse. Vorab für die Musiker selbst: Um im Takt zu bleiben, orientierte sich Ringo Starr an den Zuckungen der Hinterteile seiner Vorderleute. Er habe deshalb oft Mist gespielt, meinte der Schlagzeuger später.

Es musste sich etwas ändern. Und es änderte sich viel: Im August 1966 gaben die Beatles in San Francisco ihr letztes Konzert. Danach führte der künstlerische Weg von der Bühne ins Studio. Die Beatles waren dabei nicht die einzigen Pop-Stars, die Live-Musik als Hemmnis empfanden und den kreativen Schwerpunkt von der Performance auf die Studioproduktion verlagerten.

Damals erlebte die Musikszene eine Art Wettlauf zwischen den Beatles und – nein, nicht den Rolling Stones (sie haben sich erst später mit «Their Satanic Majesties Request» auf die Studioästhetik eingelassen). Es waren die Beatles und die Beach Boys – genauer: Brian Wilson, die sich kompetitiv inspirierten.

Der Sänger, Songwriter und Arrangeur verabschiedete sich seinerseits vom Konzertbetrieb, als er, gebeutelt von Lampenfieber und Stress, 1964 auf einer Tournee im Flugzeug einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die Beach Boys mussten auf Tourneen dann künftig auf ihren Leader verzichten. Brian Wilson fand dafür Zeit, sich um den Fortschritt der Pop-Musik zu kümmern. Lieder über Sonne, Surfen, hübsche Mädchen – das war ihm nicht mehr genug. Wilson schwebten neue, inhaltsschwere und sinfonische Songs vor.

Multi-Track

Er musste sich allerdings sputen mit der Umsetzung seiner avantgardistischen Phantasie. Im Dezember 1965 nämlich hatten die Beatles mit «Rubber Soul» die Pop-Zukunft für sich reklamiert: Unter der Ägide ihres Produzenten George Martin spielten sie nicht nur mit neuen Formen und Instrumenten (wie einer Sitar), sie experimentierten auch mit einzelnen Tonspuren.

Die neue Mehrstimmigkeit, die die sogenannte Multi-Track-Technik erlaubte – war sie aber nicht wie geschaffen für Wilson? Mit seinen mehrstimmigen Gesangs-Arrangements für die Beach Boys beeinflusste er die Musikwelt – insbesondere Paul McCartney, der daraus kein Hehl machte. Das Flair für Mehrstimmigkeit kam Wilson nun durchaus auch in der Arbeit mit dem neuen Multi-Tracking zugute, bei dem er einzelne Tonspuren bespielen und diese in einem Gesamt-Sound zusammenfügen konnte.

Dreizehn Alben zählt der sogenannte «core catalogue» der Beatles. Das Debüt ist «Please Please Me» (1963): Bei den Aufnahmen sind zwei Schlagzeuger mit von der Partie – Ringo Starr, der neu zur Gruppe gestossen ist, und Andy White, den der Produzent George Martin aufgeboten hat. (Bild: PD)
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«With the Beatles» (1963): Bei den ersten Beatles-LP handelt es sich nicht um geschlossene Werke, sondern um lockere, eher zufällige Song-Kompilationen. Den Grossteil der Lieder für das zweite Studioalbum haben die Pilzköpfe in zwei Tagen aufgenommen. (Bild: PD)
«A Hard Day’s Night» (1964): Auf der ersten Seite des Albums findet sich der Soundtrack zum ersten Beatles-Film. (Bild: PD)
«Beatles for Sale» (1964): Weil sie nicht genügend eigene Songs beisammen haben, die Veröffentlichung aber auf das Weihnachtsgeschäft hin anberaumt ist, ergänzen die Beatles das Repertoire mit Songs von u.a. Carl Perkins, Chuck Berry, Leiber/Stoller und Buddy Holly. (Bild: PD)
«Help! » (1965): Das Album – ein erstes Meisterwerk – präsentiert die Musik zum gleichnamigen Film. Und vielleicht ist es der Spannungsbogen des Films, der auch dem Repertoire eine gewisse Geschlossenheit verleiht. (Bild: PD)
«Rubber Soul» (1965): Da die Beatles genug haben von der Beatlemania, nehmen sie Abschied von der Bühne, um sich fortan im Studio zu verwirklichen. Nun spielt George Harrison erstmals auch Sitar. (Bild: PD)
«Revolver» (1966): Die Beatles probieren LSD, die Musik wird psychedelisch, die Sounds geraten immer komplexer. (Bild: PD)
«Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» (1967): Das erste «Konzeptalbum» der Pop-Musik ist auch eine Art Gesamtkunstwerk. (Bild: PD)
«Magical Mystery Tour» (EP, 1967): Musik als Trip – und als Soundtrack zum gleichnamigen Fernsehfilm. (Bild: PD)
«The BEATLES» (1968): Die Beatles haben ein eigenes Label gegründet: Apple Records. Hier erscheinen die neuen Songs, in denen auch die politische Gegenwart – u.a. Mai-Unruhen und Bürgerrechtsbewegung – widerhallt. (Bild: PD)
«Yellow Submarine» (1969): Das Album macht Ringo Starr als Sänger unvergesslich. (Bild: PD)
«Abbey Road» (1969): Die Kollegen geraten sich Ende sechziger Jahre immer mehr in die Haare, die Band löst sich auf. Für «Abbey Road» kommen die Beatles zum letzten Mal gemeinsam im Studio zusammen. (Bild: PD)
«Let It Be» (1970): Let it be! Es ist aus! Let it be, let it be, let it be. . . (Bild: PD) Mehr zum Thema

Dreizehn Alben zählt der sogenannte «core catalogue» der Beatles. Das Debüt ist «Please Please Me» (1963): Bei den Aufnahmen sind zwei Schlagzeuger mit von der Partie – Ringo Starr, der neu zur Gruppe gestossen ist, und Andy White, den der Produzent George Martin aufgeboten hat. (Bild: PD)

Ein Meilenstein

Auf dem Album «Pet Sounds» – im Mai 1966 erschienen – reicherte Wilson seine Kompositionen nicht nur mit Hörnern, Streichern und Theremin an. Er schuf auch ein hörspielartiges Sound-Design, das neben Stimmen und Instrumentalklängen Fahrradglocken, Hupen, Hundegebell und Eisenbahnlärm integrierte. Dem differenzierten Klangbild entsprechend sollten nun auch in den Song-Lyrics (von Tony Asher) neue, geradezu existenzielle Themen zur Sprache kommen: die eigene Identität («That's Not Me»), die Entfremdung («I Just Wasn't Made For These Times») und last, but not least – die eheliche Zweisamkeit («Wouldn't It Be Nice»).

«Pet Sounds» ist ein Meilenstein der Pop-Geschichte – gewichtig und schwerfällig in dem Sinne, dass die neuen, üppigen Klanggemälde auf der Bühne nicht mehr reproduziert werden konnten. Das Pop-Album hatte sich von der Live-Realität verabschiedet. Das war auch mit ein Grund, weshalb sich die Bandkollegen gegen weiter ambitionierte Projekte ihres Leaders auflehnten. So verlief Wilsons Arbeit am neuen Album «Smile» – geplant als eine «teenage symphony to God», die Pop endgültig in ewige Kunst verwandeln sollte – im Sand. Und es war den Beatles beschieden, die Studiorevolution zu krönen mit einem akustischen Grossprojekt.

Hatten sich die Pop-Pioniere unterdessen von der Live-Musik verabschiedet, so imaginierten sie sich für ihr nächstes Studioalbum eine Live-Combo – die Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band. Die fiktive Formation erlaubte den Musikern Gedanken- und Rollenspiele. Und sie gab dem neuen Album nicht nur den Namen – sie verlieh dem Werk zum Beginn und zum Ende eine narrative Note, die es als ein geschlossenes Ganzes erscheinen lässt – als erstes «Konzeptalbum» des Pop.

Allerdings war das Konzept bloss ein Gefäss für sehr unterschiedliche Songs. Einmal mehr trieb die Originalität der Beatles bunte Blüten. Dank der Multi-Track-Technik, mit der man Sounds nun schichtete «wie eine Torte» (George Martin), konnten neue Klänge und Geräusche nun weit über die Besetzung von Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug hinauswachsen und wuchern.

In «Being For The Benefit Of Mr. Kite!» wurden lustige Jahrmarktsklänge untergebracht. In «Lucy In The Sky With Diamonds» manipulierte man das Tempo der Gesangsstimme. «She's Leavin Home» lebt von einem ausgeklügelten Streicher-Arrangement. In «Within You Without You» ertönen Sitar und Tabla. «When I'm Sixty Four» integriert Dixieland. Und in «Good Morning» tönen die Bläser psychedelisch.

Schach spielen

Sosehr die Kreativität hier zu überschäumen scheint, so langwierig und mitunter nervenaufreibend scheint die Laborarbeit am Sound gewesen zu sein. In den Beatles-Legenden wird die Arbeitszeit in den Abbey Road Studios – zwischen dem 6. Dezember 1966 und dem 2. April 1967 – mit 700 Stunden beziffert. Obwohl alle vier Beatles Songs beisteuerten, dominierten John Lennon und insbesondere Paul McCartney die Produktion, sekundiert von George Martin. Ringo Starr muss sich oft gelangweilt haben – er habe damals Schachspielen gelernt in der Wartezeit, erzählt er selber.

Im Finale von «A Day In The Life» ist überdies ein Wecker zu hören, der Ringo Starr aus dem Schlaf holen sollte, wenn es an der Zeit war für seinen Schlagzeugeinsatz. Bei der Aufnahme von «A Day In The Life» soll es allerdings hoch zu und her gegangen sein an der Abbey Road. Es wurden Freunde und Freundinnen wie Mick Jagger, Marianne Faithfull und Donovan eingeladen, es wurden auch Pappnasen verteilt, als sich Musiker des London Symphony Orchestra im Studio einfanden. Und diese spielten nun zwischen den zwei Teilen des Songs das fulminanteste Crescendo der Pop-Geschichte ein.

Als «Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band» am 26. Mai in England bzw. am 1. Juni in den USA erschien – eingepackt in ein Cover des britischen Künstlers Peter Blake (mit Fotos von Berühmtheiten wie Marilyn Monroe, Karl Marx, Edgar Allan Poe, Albert Einstein, Mae West usw.) –, kletterte es gleich an die Spitze der Album-Charts. Im Zeichen eines «Summer of Love» verstand die Hippie-Generation die dreizehn Songs als Soundtrack idealistischer Träume und halluzinogener Trips.

Der nüchterne Geist George Martins betonte sofort die künstlerische Bedeutung des Albums: Für ihn waren die Songs «little movies in sound»; das ganze Album hielt er für eine Art Musikskulptur, in der sich Kunst und Rock'n'Roll durchdrangen. Auch hellhörige Kritiker strichen das Neue an «Sgt. Pepper» heraus – es schien ihnen im Widerspruch mit den Idealen der jungen Pop-Kultur zu stehen.

Keith Richards mochte die Platte kürzlich noch als «a mishmash of rubbish» bezeichnen. Differenzierter äusserte sich im Juni 67 Richard Goldstein, der Pop-Kritiker der «New York Times»: Im Studio sei nicht nur der authentische Sound der Beatles verloren gegangen. Vielmehr habe sich auch die quasi rituelle Verbindung von Band und Fans gelöst. Indem das Studio nun quasi das Publikum ersetzt habe, hätten die Beatles den Dialog zum Publikum abgebrochen, sie seien keine «folk artists» mehr – und das Album erweise sich als Monolog.

Neue Klangwelten

Goldstein mochte nun gespürt haben, dass die unmittelbare Wucht und die Authentizität des Rock'n'Roll auf dem Spiel standen bei Studioelaboraten à la «Sgt. Pepper». Hingegen war er taub für die musikalischen Räume, die sich die Beatles im Studio erschlossen hatten. Statt den Rock'n'Roll zu umzäunen wie ein Gärtchen, öffneten sie Horizonte und Himmelsrichtungen für neue, synthetische Klangwelten.

«Sgt. Pepper» hat auch auf die Pop-Produzenten abgefärbt, die unterdessen oft als graue Eminenzen hinter zeitgenössischen Hits und Trends stehen. Von der Abbey Road verlaufen aber Entwicklungslinien zu fast allen originellen Pop-Entwürfen – zu Stevie Wonders R'n'B, zum Folk von Joni Mitchell, zum Psychedelic von Pink Floyd, zum Jazz-Rock von Steely Dan, zu Brian Enos Ambient.