Zum Abschied eine Tasse Tee

Eigentlich sollte die grosse «Faust»-Inszenierung vom März Frank Castorfs unfreiwilligen Abschied von seinem langjährigen Wirkungsort markieren. Nun reicht er noch einen schrägen russischen Mix nach.

Christine Wahl
Drucken
Ein Charakterkopf, den man vermissen wird: Frank Castorf, fotografiert anlässlich einer Rede bei den Berliner Festspielen. (Bild: Piero Chiussi / Imago)

Ein Charakterkopf, den man vermissen wird: Frank Castorf, fotografiert anlässlich einer Rede bei den Berliner Festspielen. (Bild: Piero Chiussi / Imago)

Epochale Abschiede sind, gottlob, nicht formvollendet. Wahrscheinlich ist es nicht nur ihr gutes Recht, sondern sogar ihre emotionale Pflicht, hemmungslos auszufransen, kein bisschen über den Dingen zu stehen und, in einem Wort, absolut imperfekt zu sein. Der Grad der Abweichung vom Wohltemperierten zeigt die Grösse des Verlusts.

Womit wir direkt bei Frank Castorfs wirklich allerletzter Premiere in der Berliner Volksbühne wären. Der unfreiwillig scheidende Intendant hat nach seinem eigentlich als Abschiedswerk angekündigten «Faust» vom März nun im letzten Monat seiner Amtszeit doch noch eine Inszenierung herausgebracht. Und die ist mit dem epochalen Meisterwerk nach Goethe beileibe nicht zu vergleichen – und will es auch gar nicht sein.

Reise in den Wahnsinn

«Ein schwaches Herz» heisst die Produktion, nach einer Erzählung von Fjodor M. Dostojewski. Ein letztes Mal hockt das Publikum im Gesamtraumkunstwerk von Castorfs vor zwei Jahren verstorbenem Bühnenbildner Bert Neumann auf Sitzsäcken – und folgt einem kleinen Petersburger Beamten namens Wassja Schumkoff in den Wahnsinn. Der will bald heiraten, erträgt aber leider – das «schwache Herz» eben – das Glück nicht und verliert über einem verschleppten Arbeitsauftrag den Verstand.

Castorf spannt diese Story zum einen mit «Bobok» zusammen, einer weiteren Dostojewski-Erzählung über einen Schriftsteller, der auf einem Friedhof die verbalen Rangeleien frisch Verstorbener belauscht, und zum anderen mit dem ziemlich schrägen sowjetischen Filmklassiker «Iwan Wassiljewitsch wechselt den Beruf» von 1973. Dort tüftelt ein weltfremder Ingenieur an einer Zeitmaschine und versetzt seinen dümmlichen Vermieter versehentlich in die Zarenzeit, während im Gegenzug Iwan der Schreckliche durch eine Moskauer Hochhaussiedlung irrlichtert.

Dass die Zeit auf dem Sitzsack darüber ganz schön lang wird und man sich zwischen den Erzählebenen bisweilen ähnlich verloren fühlt wie der Zar im realsozialistischen Wohnungsbau, ist dabei relativ zweitrangig. Im Grunde geht es allen Beteiligten darum, dieses Haus und seine Schauspieler noch einmal gebührend zu feiern – zumal von den meisten nicht bekannt ist, wo man sie wiedersehen wird.

Grandioses Finale

Voilà: Grandios, wie der kurzfristig für einen kranken Kollegen eingesprungene Daniel Zillmann aus seiner notgedrungenen Textschwäche mit der kongenialen Souffleuse eine Art Jam-Session macht! Wie hochnottragisch Georg Friedrich als Schumkoff in den Wahnsinn driftet, der tolle Frank Büttner sich die Seele aus dem Leib schreit oder die grossartige Margarita Breitkreiz als nerdige Ingenieurin die Schalthebel kontrolliert. Und wie schliesslich Kathrin Angerer, wenn alles vorbei ist, am Tisch sitzt und die allerletzten Worte spricht: «Dann mache ich uns mal einen Tee.» So tieftraurig und zugleich vollkommen pathosfrei, wie wirklich nur sie es kann.

Und dann? Stehende Ovationen für 25 grosse, über weite Strecken konkurrenzlose Castorf-Volksbühnen-Jahre!