Ungesühnte Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Der Essayroman «Verfahren eingestellt» von Claudio Magris greift eine bizarre Episode aus Triests Geschichte im Zweiten Weltkrieg auf.

Franz Haas
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Im Schloss Miramare inszeniert Magris ein gespenstisches Fest. (Bild: Davorin Krizmancic / Reuters)

Im Schloss Miramare inszeniert Magris ein gespenstisches Fest. (Bild: Davorin Krizmancic / Reuters)

Ob das ein regelrechter Roman ist, sei dahingestellt. Jedenfalls ist «Verfahren eingestellt» ein literarischer Gewaltstreich wider das Vergessen von vielerlei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein erzählerisches Ungetüm von essayistischer Prägnanz und sprachlicher Virtuosität, auch in der wendigen Übersetzung von Ragni Maria Gschwend. Claudio Magris ist dabei ganz in seinem Element. Zwischen fiktionalen Schnurren und historischen Fakten breitet er sein immenses Wissen aus, erzählt er von den dunklen Seiten seiner Heimatstadt Triest und von vielen anderen Winkeln der Welt. Zwar ufert dieser Essayroman oft arg in gelehrte Details aus, aber solche Längen werden immer wieder gutgemacht vom unbändigen Erzählfluss.

Hauptsächlich geht es in diesem Buch um zwei Ungeheuerlichkeiten in der Menschheitsgeschichte der letzten Jahrhunderte, die Vernichtung der europäischen Juden und die Versklavung von Millionen Schwarzafrikanern. Wie sich dabei die Themen Holocaust und Sklaverei in der Stadt Triest nach tausend Um- und Irrwegen überschneiden, verdankt sich ganz der literarischen Findigkeit des Autors.

Erzählerische Bocksprünge

Claudio Magris hatte Ähnliches schon in seinem grandiosen Roman «Blindlings» (dt. 2007) unternommen, in dem es ebenfalls um zwei katastrophale Aspekte der Historie geht, den Kolonialismus und den brudermörderischen Kommunismus. Dabei handelt es sich um den inneren Monolog des Patienten einer psychiatrischen Klinik, der sich mit Figuren aus verschiedenen Jahrhunderten identifiziert, was die sprunghafte erzählerische Irrfahrt plausibel macht. In dem neuen Roman «Verfahren eingestellt» hingegen fehlt diese Komponente des Irrsinns, wodurch seine narrativen Bocksprünge schwerer nachvollziehbar sind. Es erzählt nämlich eine sehr intelligente und kompetente Frau, die fiktive Kuratorin eines Museums, dessen reale Errichtung allerdings ein sehr bemerkenswerter Kauz begonnen hatte.

Nach diesem Diego de Henriquez ist heute in Triest tatsächlich ein «Kriegsmuseum für den Frieden» benannt, das Museo della guerra per la pace. Bis zu seinem Tod 1974 hatte er hier kuriose Objekte zusammengetragen: «Panzerwagen, Kanonen, zwei Hubschrauber, Maschinengewehre und Flinten, einen Jeep, Gürtelschnallen, Koppeln» und sogar U-Boote gehören dazu. Das Kriegsgerät soll gegen das Vergessen mahnen. In der Fiktion des Romans wird es nun im Auftrag des skurrilen Sammlers kuratiert von Luisa Brooks, der Tochter einer jüdischen Italienerin und eines schwarzen amerikanischen Besatzungssoldaten. Ihre Biografie und die Geschichte ihrer Vorfahren, «Juden und Neger», bilden die Koordinaten für die Horrorszenarien dieses Buches, von Sklavenschiffen bis zu Konzentrationslagern.

Ein italienisches KZ

Luisa, die patente Organisatorin des Museums, erzählt zurückhaltend von sich und ausschweifend von ihrem Auftraggeber, den sie nie beim Namen nennt. Oft verschwimmen die Ich- und die Er-Form, weil Luisa auch ausführlich zitiert aus «seinen» Tagebüchern. Von diesen fehlen allerdings just jene Teile, die mitten ins topografische Terrorzentrum des Buches führen könnten, in das einzige NS-Konzentrationslager auf italienischem Boden, die Risiera di San Sabba.

«Dieses düstere schwärzliche und rötliche Gebäude» liegt unweit vom Zentrum Triests kurz vor der slowenischen Grenze und heisst so, weil dort in friedlichen Zeiten «der Reis geschält wurde», bis es in den letzten Kriegsjahren zu einem KZ umfunktioniert wurde, samt Gaskammern und Krematorium. Unter den Tausenden der dort Ermordeten war auch die Grossmutter der Erzählerin Luisa, die nun in den Tagebüchern ihres Auftraggebers vergeblich nach einer Liste sucht, die «er» nach dem Krieg erstellt hatte: «Achtundsechzig Seiten, mit Vornamen, Nachnamen und Daten» von Denunzianten und Henkern. Bevor sie mit Kalk übertüncht wurden, hatte «er» sie kopiert von den Zellenwänden im KZ, Graffiti der Gefolterten und Todgeweihten, die dort anklagende Zeugnisse für die Nachwelt eingraviert hatten.

Vermutlich fielen die Blätter mit dieser Liste einer Feuersbrunst zum Opfer – und mit ihnen der bis zuletzt furios und wirr monologisierende namenlose Auftraggeber (der bizarre Sammler Diego de Hernandez kam tatsächlich bei einem mysteriösen Brand in einem seiner Depots ums Leben). Die NS-Verbrechen in der Risiera werden also nie gesühnt, die Schergen kommen mit lauen Prozessen davon, die aus Mangel an Beweisen im Sand verlaufen, und deshalb werden die «Verfahren eingestellt».

Das ist nur das grobe Muster dieses filigranen Buches, das sich mit sprachlicher Finesse in zahllose Erzählströme und Themen von mörderischer Gewalt verzweigt. Sprunghaft geht es quer durch die Weltgeschichte («Jahrhunderte und Jahrhunderte, ein Wimpernschlag») von der Ausrottung der Indianer zum Kannibalismus in anderen Weltgegenden, von der katholischen Inquisition zum Rassismus in den amerikanischen Südstaaten, unter dem Luisas Vorfahren väterlicherseits zu leiden hatten. Sie, die Haupterzählerin dieses Textes, fühlt sich zweifach entwurzelt als eines der «Kinder von jüdischer Diaspora und Sklaverei».

Gespenstisches Fest

Manchmal wird der erzählerische Sturzbach zu forciert auf Aktualität gelenkt, auf die Sturmgewehre der heutigen «Islamisten» oder auf die Milliarden, mit denen «der Bankier Soros» jongliert. Zudem wäre «Verfahren eingestellt» kein Buch von Magris, würde es nicht überborden von Anspielungen auf Österreichs Geschichte und Hochliteratur. Eindringlicher als solche Exkurse sind jene Stellen, in denen die Erzählung nahe am Auge ihres thematischen Zyklons bleibt, in der Risiera di San Sabba, in Triest und Umgebung, im Schloss Miramare, in einer Gegend, die nicht nur Rilke gefiel.

In mehreren Anläufen und raffinierten Variationen erzählt Claudio Magris von einem gespenstisch rauschenden Fest im Schloss Miramare am 20. April 1945, zu «Führers Geburtstag», wo Honoratioren von Triest und schlimmste Kriegsverbrecher in einer makaber fidelen Götterdämmerung schwelgen, «während der Krieg aus dem letzten Loch pfeift». Auch viele dieser Herren werden glimpflich davonkommen. Spätere «Verfahren» gegen sie sind Farcen und werden bald «eingestellt», gemäss Titel und moralischem Fazit dieses fachkundig beissenden und kratzenden Buches.

Claudio Magris: Verfahren eingestellt. Roman. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Hanser-Verlag, München 2017. 396 S., Fr. 36.90.