Eine Lanze brechen für die Namenlosen

Kaufen werde das niemand, warnte die Verlegerin angesichts von Ruffatos Romanmanuskript «Es waren viele Pferde». Es kam anders: Heute ist Luiz Ruffato eine der profiliertesten Stimmen seines Landes.

Martina Farmbauer, Rio de Janeiro
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Luiz Ruffato steht zu seiner bescheidenen Herkunft – und das passt nicht allen. (Bild:  Patrice Normand / Opale / Leemage )

Luiz Ruffato steht zu seiner bescheidenen Herkunft – und das passt nicht allen. (Bild:
Patrice Normand / Opale / Leemage )

«São Paulo ist . . .» Kann man zu Luiz Ruffato in Rio de Janeiro sagen, dass einem São Paulo gefällt? Die Zwölf-Millionen-Stadt hat er im Buch «Eles eram muitos cavalos» («Es waren viele Pferde») in 69 Episoden porträtiert: gewaltig, atemberaubend – und poetisch. Aber die Wirtschaftslokomotive Brasiliens und Lateinamerikas steht dennoch im Schatten der «Cidade maravilhosa» Rio de Janeiro, des Sehnsuchtsorts von Deutschen, Österreichern und Schweizern. «São Paulo ist super», sagt Ruffato, der gerade eben in Rio angekommen ist, weil hier am Abend die Bühnenadaption von «Eles eram muitos cavalos» Premiere feiert. Und er erklärt auch gleich, aus welchem Grund.

«São Paulo ist die einzige Stadt Brasiliens, wo niemand fragt, wessen Sohn oder Tochter man ist. Hier in Rio wollen die Leute wissen, aus welcher Familie man kommt. In São Paulo fragen sie: ‹Was machst du?›»

Luiz Ruffato, 56, ist Schriftsteller, einer der bekanntesten und wichtigsten des Landes, und São Paulo beziehungsweise sein Buch «Eles eram muito cavalos» hat ihn dazu gemacht, wie der Autor erzählt. «Wir drucken das nur, weil wir dich kennen», habe seine brasilianische Verlegerin gesagt, als das Manuskript fertig war. «Aber dieses Buch wird niemand lesen.» Es kam anders. Der Roman, in Brasilien 2001 und auf Deutsch 2012 in einer von Michael Kegler besorgten Übersetzung erschienen, wurde ein grosser Erfolg.

Ein kritischer Geist

Nach einem Monat war die erste Auflage ausverkauft, «Eles eram muitos cavalos» gewann den Trofeu APCA und den Prémio Machado Assis, die wichtigsten Literaturpreise Brasiliens, und liegt heute in neun Ausgaben in verschiedenen Ländern vor. Dass Luiz Ruffato die Eröffnungsrede beim Auftritt Brasiliens als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2013 hielt, verdankt er ebenfalls dem Erfolg des Buches.

Dabei war «Eles eram muitos cavalos» nur als Fingerübung für Ruffatos eigentliches Romanprojekt, «Inferno provisório» («Vorläufige Hölle»), gedacht. Fünf Bände umfasst dieses Werk, in dem es um die Geschichte der Arbeiterinnen und Arbeiter in Brasilien geht. Auf Deutsch ist soeben «Vista parcial da noite», der dritte Band von «Inferno provisório», unter dem Titel «Teilansicht der Nacht» erschienen, wieder in der Übersetzung Keglers.

Ruffato, der 2013 in Frankfurt nicht die Postkartenseite Brasiliens und das Wirtschaftswachstum lobte, sondern all die Miseren der Nation vergegenwärtigte, ist nach wie vor einer der genauesten Beobachter von Politik, Kultur und Gesellschaft sowie einer der kritischsten Geister im Land. Allerdings wird er im Ausland stärker rezipiert als in der Heimat, was, wie er glaubt, auch mit seiner Rede in Frankfurt zu tun hat: Mindestens einmal im Jahr – im vergangenen Jahr waren es sogar drei Mal – ist der Autor zu Buchvorstellungen, Gesprächsrunden, runden Tischen in der deutschsprachigen Welt eingeladen und füllt Bibliotheken und Hörsäle.

In der Brasilien-Ausgabe der spanischen Tageszeitung «El País» schreibt Ruffato wöchentlich eine Kolumne. Unlängst hatte er darin, als die Kronzeugen-Aussagen in der Anti-Korruptions-Operation «Lava Jato» öffentlich wurden, das Fehlen einer dritten Kraft, der Zivilgesellschaft, im Land bemängelt. Weil mit acht Ministern, gegen die derzeit ermittelt wird, zwölf Gouverneuren, Dutzenden Parlamentariern sowie drei ehemaligen Präsidentinnen und Präsidenten und inzwischen auch dem regierenden Präsidenten alle brasilianischen Parteien in den Skandal verstrickt sind, wollte zunächst weder das linksorientierte noch das rechtskonservative Lager Demonstrationen riskieren – denn die Kritik an der Gegenseite fiele unweigerlich auf die eigenen Parteigänger zurück.

«Ich bezweifle, dass jetzt wirklich etwas passiert», sagt Luiz Ruffato. «Ich bin sogar noch pessimistischer. Alle Präsidentschaftskandidaten werden in die Sache verstrickt sein, sie werden sich zusammentun und sagen: ‹Wollen wir nicht lieber vergessen, was passiert ist?› Oder noch schlimmer: Es wird ein Anführer aus dem Nichts kommen, ein Populist, der alle Unzufriedenheit zu bündeln und in Wählerstimmen umzuwandeln weiss.»

Niemand kennt ihre Namen

15 Jahre nach seinem Erscheinen ist «Eles eram muitos cavalos» damit immer noch oder wieder aktuell, wie auch die Bearbeitung für das Theater in Rio de Janeiro zeigt. Ruffato erzählt an diesem Abend, dass er den Roman erst habe schreiben können, nachdem er den Titel gefunden habe.

Er stiess auf ein Gedicht der brasilianischen Lyrikerin Cecília Meireles, in dem es heisst: «Es waren viele Pferde / doch niemand kennt mehr ihre Namen / ihre Fellfarbe, woher sie kamen.» Das passt im Allgemeinen auf die Geschichte vieler Einwanderinnen und Einwanderer in Brasilien – auch auf Luiz Ruffatos Grosseltern, die aus Italien kamen – sowie im Besonderen auf São Paulo, wohin Ruffato aus seinem ländlichen Geburtsort Catuguases zog.

Szenenbild aus der Inszenierung des Coletivo dos Vagabundos (Bild: pd)

Szenenbild aus der Inszenierung des Coletivo dos Vagabundos (Bild: pd)

Die Theatergruppe Coletivo dos Vagabundos aus Rio de Janeiro, die «Es waren viele Pferde» an diesem Abend in Rio auf die Bühne bringt, versteht die Zeilen so: «Alle Figuren werden Pferde genannt, als Metapher dafür, was wir in diesem Kontext sind», sagt der Schauspieler und Regisseur Alexandre Lino. «Wir durchqueren die Tage, wir spüren sie nicht mehr.»

In Brasilien herrschte vorübergehend die Illusion, dass das Leben besser werden könnte, aber die Leute rackern sich immer noch ab und kommen ebenso wenig wie das Land vom Fleck. Ruffato hat es geschafft, aber er sieht sich nicht als Beispiel dafür, dass das möglich ist – hart arbeiten, lernen, aufsteigen –, sondern als Ausnahme. Der schwarze Arzt, der Unternehmer, der in einer Favela geboren wurde – für Luiz Ruffato sind diese Karrieren, die den Brasilianern als Beispiele vorgehalten werden, faktisch Sonderfälle.

Und eine Gesellschaft, die Beispiele braucht, ist für ihn keine gerechte Gesellschaft. «Für mich persönlich war das ein absolut ungewöhnlicher Weg», sagt er. «Das ist ganz klar auf Kosten vieler anderer Dinge gegangen, denn eine solche Karriere erfordert einen Preis. Wenn ich zurückschaue, dann kann ich ohne jede Übertreibung behaupten, dass ich von niemandem Hilfe hatte.»

Das Chaos nicht ordnen

Ruffato nutzt den Platz, den er sich erobert hat, um die Dinge zu sagen, die er sagen will, unter anderem eben auch in seiner Kolumne in «El País Brasil», die ihm bisweilen bitterböse Kommentare einbringt. Bei einigen, die einen vergleichbaren Lebensweg zurückgelegt haben, beobachtet er, dass sie ihre Vergangenheit auslöschen, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Luiz Ruffato hat beschlossen, genau das Gegenteil zu machen: «Ich spreche immer davon, wo ich herkomme, das ist bisweilen zutiefst unangenehm für die Leute.»

Ruffato ist vom Knaben aus armen Verhältnissen – die Mutter Waschfrau, der Vater Popcornverkäufer – zu einem der wichtigsten brasilianischen Schriftsteller geworden. Kein Beispiel, eine Ausnahme.

Verbunden damit ist, dass er den brasilianischen Roman, wenn man «Eles eram muitos cavalos» überhaupt so bezeichnen kann – auf jeden Fall nicht im traditionellen, naturalistischen Sinn –, quasi neu erfunden hat. Da ist zum einen die innovative Form des Buches, das aus 69 Episoden besteht: Diese können von der Aufzählung der auf einem Buchregal versammelten Titel bis zu Szenen und Geschichten reichen, wobei der Leser sich durchaus die Frage stellen kann: «Fange ich nun mit der ersten Episode an oder mit der fünfzigsten?»

Ruffato nennt die Episoden «Fragmente», das Buch «eine literarische Installation»; die dahinterstehende Poetologie beschreibt er folgendermassen: «Die Form des traditionellen Romans versucht eine Ordnung herzustellen. Und wie ordnet man das Chaos? Das Beste ist, das Chaos nicht zu ordnen, sondern es durchscheinen zu lassen.»

Zum anderen beschäftigen den Autor die Themen und Personen, die in der bürgerlichen brasilianischen Literatur bis dahin nicht vorkamen und deren Darstellung deshalb ebenfalls eine andere als die traditionelle Form erforderlich machte. Als er zu lesen angefangen habe, erzählt Ruffato, habe er seine Freunde, seine Eltern nicht wiedergefunden. Was ihn fortan interessierte, war, die Figuren auf die Buchseiten zu bringen, die dort nicht existierten – die Namenlosen, die Menschen, die niemand sieht. «Ich weiss nicht, ob meine Bücher taugen. Aber man wird dort die Figuren finden, die man in anderen Büchern nicht findet. Das garantiere ich.»

Thema in Variationen

Was folgt nach einer ersten heftigen – und erfolgreichen – Eruption dessen, was man auf der Seele hat? Ein Schriftsteller kann sein Thema wiederholen oder sich ein neues suchen. Luiz Ruffato entschied sich für ein Thema in verschiedenen Variationen – die Geschichte der Arbeiterschaft in Brasilien und die Frage der Zugehörigkeit: «Was war die Auswirkung, die unsere schnelle und gewaltige Industrialisierung auf das Leben der Menschen hatte?»

Millionen Menschen, so sieht das Ruffato, wurden aus ihren Herkunftsregionen vertrieben, um die grossen Metropolen zu besetzen, vor allem während des Militärregimes. Die Städte wuchsen ungebremst und ohne Planung, brachten abgelegene Viertel und Favelas hervor. Damit kamen die Misere, der Drogenhandel, die urbane Gewalt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter wurden zu Parias der brasilianischen Gesellschaft, von der Regierung ebenso vergessen wie von Kino, Literatur und Theater. Erst Luiz Ruffato hat ihnen in seinem Schaffen einen Platz gegeben.

Die einzelnen Bände von «Inferno provisório» sind dabei eigenständige Romane. Sie sind nicht mehr ganz so fragmentiert wie «Eles eram muitos cavalos»; aber die Sprache und den Rhythmus hat Ruffato beibehalten, ebenso Elemente wie Briefe, Radiosendungen und Nummerierungen.

Dass dieses Projekt gelungen ist, grenzt an ein literarisches und gesellschaftliches Wunder. Ruffato selbst, der sich an diesem Abend in Rio de Janeiro vom Regisseur bis zum Pförtner von fast allen verabschiedet und immer noch in einer bescheidenen Wohnung im Westen São Paulos lebt, erwacht weiterhin jeden Morgen mit der Angst, dass alles nur ein Traum sein und er abstürzen könnte.

Luiz Ruffato: Teilansicht der Nacht. Vorläufige Hölle, Bd. 3. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Assoziation A, Berlin 2017. 144 S., Fr. 23.90.