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Was ist eigentlich gute Kunst? Wer nach den Beurteilungskriterien fragt, kann bei Kunst-Juroren auf verwunderliche Praktiken stossen. Dem Kunsturteil haftet oft Willkür und Intransparenz an.

Gabriel Katzenstein
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Ist das gute Kunst oder nicht? Und warum oder warum nicht? «Der Denker» (2016) von Alfredo Aceto in der Ausstellung «Swiss Art Awards» 2016. (Bild: Georgios Kefalas / EPA)

Ist das gute Kunst oder nicht? Und warum oder warum nicht? «Der Denker» (2016) von Alfredo Aceto in der Ausstellung «Swiss Art Awards» 2016. (Bild: Georgios Kefalas / EPA)

Unlängst wurden wir von einem Risk-Manager um Rat gefragt. Er will für eine weisse Wand seiner Wohnung ein Gemälde erwerben, abstrakt soll es sein, 15 000 Franken sind budgetiert, und das Werk soll sich im Wert vermehren. Während sich die ersten zwei Auflagen durch unverfängliche «Geschenkpapierkunst» realisieren liessen, wird es bei der Wertsteigerung schwierig.

Welche Kunst überlebt kurzfristigen Hype? Soll sich der Manager für einen «Bilanz»-Rating-Künstler entscheiden? Soll er sich an bedeutenden Privatsammlern orientieren? Sein Budget ist viel zu gering. Soll sich der Kleinstinvestor an eine der ganz heissen Los-Angeles-Galerien wie David Kordansky wenden?

Soll er die Wertsteigerungen auf dem Kunstmarktportal Artprice verfolgen? Welcher Künstler abstrakter Werke legt dort kontinuierlich an Wert zu? Horoskope, trotz den bekannten Geburtsdaten der Künstler, schweigen. Kennt der Handel allenfalls eherne Gesetze?

Der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler, der üblicherweise mit Picasso und damit Erfolg assoziiert wird, wandte, wie Heinz Berggruen berichtet, viel Energie darauf, «Sternschnuppen am Firmament der Kunst zu etablieren». Verena Hartmann vom Auktionshaus Villa Grisebach äusserte uns gegenüber, beim Durchstöbern alter Art-Basel-Messekataloge sei sie auf viele Künstler gestossen, die, einst hochgelobt, inzwischen völlig in Vergessenheit geraten seien, andere wiederum hätten exorbitant an Wert gewonnen – «wenn man das damals gewusst hätte».

In der Regel wird an einer Auktion das angeboten, was verkauft wird. Urs Lanter von Sotheby's Zürich gibt anlässlich der Vorbesichtigung von Schweizer Kunst vor einem Bild Otto Morachs zu bedenken, dass Werke mit religiösem Inhalt es heute eher schwer hätten, Käufer zu finden. Seine Prognose bewahrheitet sich wenige Tage später. Der «Gotische Dom» geht zurück.

Lanter spricht einen wichtigen Punkt an: die Wertvorstellungen der Sammler. Es scheint einzuleuchten, dass ein Immobilien-Tycoon einen anderen Sinn in Kunst erblickt als ein Papst Julius II. oder ein Dominique-Vivant Denon.

Welche Kriterien gelten, fehlt? Das «Auge» des Kenners, «eine glückliche Hand», das «Bauchgefühl»?

Entscheidungsträger wie Auftraggeber, Sammler, Kuratoren, Mäzene und kunstpolitische Systeme bestimmen die Kunstproduktion der Gegenwart mit, schliessen Früheres aus, entdecken aber auch wieder Neues im Vergangenen. Was einst als «entartet» verfemt war, gilt nunmehr als Highlight. Gestern führte ein Tom of Finland eine Nischenexistenz, heute wird er in der Beletage der internationalen Kunstwelt gefeiert.

Wer ist Fünf-Sterne-Künstler?

Im schweizerischen Kunstlexikon Sikart werden Künstler nach «objektiven Kriterien» in fünf Kategorien unterteilt: von lokaler bis hin zu internationaler Bekanntheit. Als Messgrundlage werden Ausstellungen, Publikationen sowie die Präsenz in Museen herangezogen.

Während bis 2010 bei diesen Unterteilungen noch von «Sikart-Bewertung» gesprochen wurde, wird dasselbe Kriterium heute beschönigend «Bearbeitungstiefe» genannt. Neu werden hierfür nicht mehr Sterne vergeben, sondern neutrale Quadrätchen. Die Nomenklatur sowie die Icons verdeutlichen: Wir befinden uns auf vermintem Terrain – der Beurteilung von Kunst.

Von der Mediokrität hinauf zum Meisterwerk – wie soll über Kunst geurteilt werden, für die keine objektiven Kriterien bestehen? Wer leuchtet dereinst als Fünf-Sterne-Künstler? Wer besteht den Test der Zeit? Was besitzt Substanz? Welche Kriterien gelten, fehlt einem «das Auge» des Kenners, «eine glückliche Hand», das «Bauchgefühl» – vermutlich das am häufigsten verwendete Axiom – oder ein «angeborenes Flair für das Gute und Bleibende»?

Der Bankier Pillet-Will legte einst Auguste Renoir dar, dass er aufgrund seiner Stellung verpflichtet sei, nur Bilder von Künstlern zu kaufen, die hohe Preise haben, «deshalb muss ich mich an Bouguereau wenden, es sei denn, dass ich einen noch höher kotierten Maler finde».

Obwohl die Frage nach der pekuniären Seite eines Kunstwerks irritieren dürfte, ist es genau dieser quantifizierbare Aspekt, den selbst Kunsthistoriker heranziehen, wenn es um die Beurteilung von Kunst geht. Max Gubler als Beispiel: Von Gotthard Jedlicka wurde er 1958 als «der grösste schweizerische Künstler seit Ferdinand Hodler» bewertet.

Heute wird nicht selten der Wertschätzungsverlust am Fall der Auktionspreise festgemacht. Wenn dann als Begründung präzisiert wird, der Künstler habe in den auf dem Markt zugänglichen Werken den Anschluss an die Avantgarde verpasst, mag dies isoliert schlüssig erscheinen, doch hat nicht auch Norman Rockwell den Anschluss an die Avantgarde verpasst und ist keineswegs aus dem Bewusstsein verschwunden?

Da und dort wird gefordert, ein Künstler solle sich in seinem Œuvre entwickeln. In welcher Form hat sich ein Giorgio Morandi entwickelt? Ist 1942 Aktualität in seinen asketischen Stillleben erkennbar? Weist man auf solche Abweichungen hin, löst oft der Hinweis «Aussenseiter der Gesellschaft» den Erklärungsnotstand. Im Vergleich mit Camille Corot erhielt Paul Désiré Trouillebert, der sich epigonal an Corot anlehnte, den zweifelhaften Ehrentitel «Corot für Arme».

«Schule», «Umkreis», «Nachfolge», «im Stile von» sowie das Präfix «Neo-» weisen einen zweifelhaften Beigeschmack auf. Stellen wir etwa die konzentrischen Ringe von Jasper Johns Kenneth Noland, Wojciech Fangor, Robert Rotar, Julio Le Parc und Ugo Rondinone gegenüber: Wem sollen wir die Lorbeeren zusprechen? Keiner der Nachfolger von Johns sieht sich als Appropriation-Art-Künstler. Ist Rondinone ein Neo-Johns für Reiche? Wird in seinem Fall später die Weisheit zum Zuge kommen, die man von Abreisskalender-Blättern kennt: «Wer in die Fussstapfen anderer tritt, hinterlässt keine eigenen Spuren»?

Muss-Kriterien

Die Spielregeln wechseln ständig. Wir befinden uns in einem Markt von hoher Volatilität. Zeitgenössische Kunst richtig zu beurteilen, so bekennt der Kunsthändler Markus Schöb offen, sei etwas vom Schwierigsten, da die Sicht oft durch Modeerscheinungen getrübt werde. Er unterscheidet zwischen kunsthistorischer Relevanz und Marktqualität, diese zwei Grössen verhalten sich nicht proportional zueinander.

Die Würdigungen der Preisträger im Dossier sind rein deskriptiv. Aspekte der Werkrelevanz werden nicht herausgearbeitet.

Parallel zur Art Basel werden in der Halle 3 oder 4 des Messezentrums Basel jährlich die Schweizer Kunstpreise (Swiss Art Awards) verliehen. Eine zwölf Mitglieder zählende Jury, welche sich aus sieben Mitgliedern der Eidgenössischen Kunstkommission (EKK) sowie fünf externen Experten zusammensetzt, muss über Positionen urteilen, die vielfach noch nicht etabliert sind. Welche Kriterien müssen bei der Evaluation erfüllt sein? Wo schlägt die Wünschelrute aus?

Wir haben Nadia Schneider Willen, seit 2012 Präsidentin und seit 2007 Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission, Fragen zu den Beurteilungskriterien der Kunstjury gestellt. Ihre Antworten, die von den übrigen EKK-Jurymitgliedern gegengelesen und ergänzt wurden, sind getragen von äusserster Zurückhaltung.

Offenkundig will sich niemand exponieren. Obwohl 2016 aus 354 Kunsteingaben 47 Positionen eine Ausstellungsplattform in Basel erhielten und schliesslich in einer zweiten Evaluation neun Künstlern ein Preis von 25 000 Franken zugesprochen wurde, erhalten wir kaum Einblick in die Blackbox der Urteilsfindung. Eine Teilnahme als Beobachter beim Selektionsprozesses wird uns vom Bundesamt für Kultur verwehrt. Der Persönlichkeitsschutz wird als Grund genannt.

«Wir tasten uns diskutierend an die Werke heran», heisst es vorsichtig. Ausschlaggebend beim Jurieren sei eine «grosse (Seh-)Erfahrung, das Vergleichen von Positionen untereinander», ein «gemeinsames Konzept wird nicht verfolgt».

Eine Checkliste mit Muss-Kriterien besteht nicht, die Kriterien werden «in der Diskussion unter den Kommissionsmitgliedern für jede künstlerische Position erarbeitet». Ein einheitlicher Massstab, ein Kanon künstlerischer Meisterschaft, eine «publizierbare Kriterienliste» existiert nicht. Anything goes? – «Grundsätzlich gibt es keine Einschränkungen in Medien und Thematiken.» Die Selektion erfolge demokratisch über Abstimmung.

Dass in der Urteilsfindung keine verbindlichen Angelpunkte auszumachen sind, wird in unserer Frage nach der Zusammensetzung der Jury deutlich, denn diese spiele «auf jeden Fall eine grosse Rolle». Geht es da mit rechten Dingen zu? Die Kunstrichter tragen keine Augenbinden. Käme bei einer Sozioanalyse Befangenheit zum Vorschein? Stellvertretend Dalton Trumbo als Beispiel für einen Blindtest: Als Kommunist wird er aus Hollywood verstossen, unter Pseudonym werden seine Drehbücher mit Oscars ausgezeichnet.

Statistische Werte (Alter, Geschlecht, Sprachregion), wie sie im Jurybericht der Swiss Art Awards bis 2015 publiziert wurden, insinuieren förmlich eine Beeinflussung bei der Entscheidungsfindung, wohl auch die Wahl des Kunsttribunals durch den Bundesrat.

Es wird jedenfalls klar, dass die Geschehnisse hinter den Kulissen des Schweizer Kunstpreises mit seinen «strengen Qualitätsurteilen» für Aussenstehende nicht nachvollziehbar sind. Da kein «Salon des Refusés» existiert, ist auch ein Vergleich der prämierten und der abgelehnten Positionen nicht möglich. Die Würdigungen der Preisträger im Dossier sind rein deskriptiv. Aspekte der Werkrelevanz werden nicht herausgearbeitet. Dort, wo Urteile gefällt werden, bleibt der Text nebulös.

So zog ein Video die Jury «in den Bann». Zwei monochrom bemalte Leinwände überzeugten durch ihre «spannungsvollen Oberflächen» und «räumliche Positionierung». Installationen erhielten durch ihre «Vieldeutigkeit» oder «handwerkliche Perfektion» den Zuspruch oder beeindruckten durch die «verschiedenen Trägermedien».

Dem Kunsturteil, fern einer kritischen Würdigung, haftet Willkür und Intransparenz an, es erscheint nicht als Resultat vertiefter Analyse, sondern als schwer fassbares «je ne sais quoi» – das prämierte Werk besitzt ein gewisses Etwas.