Chillen mit Gotthelf

Das hätte man nicht gedacht: Jeremias Gotthelfs «Schwarze Spinne» ist ein Stück zur Gegenwart. Das Theater Kanton Zürich serviert es mit einem «Bacardi Feeling».

Daniele Muscionico
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Keiner will es gesehen, keiner davon gewusst haben: Christine (Katharina von Bock) geht für die Dorfbewohner einen Pakt mit dem Fremden (Michael von Burg) ein. (Bild: Karin Hofer / NZZ Fotografen)

Keiner will es gesehen, keiner davon gewusst haben: Christine (Katharina von Bock) geht für die Dorfbewohner einen Pakt mit dem Fremden (Michael von Burg) ein. (Bild: Karin Hofer / NZZ Fotografen)

Ein Schrei, entsetzt und jäh. Der Himmel ist klar, der Schrei spitz, der Mond auf einmal blasser. Der Schrei aus Reihe zwei hallt nach. Und er ist begründet. Sprang hier nicht und kriecht dort nicht dieses Etwas, das eine Spinne sein muss? Schossen mit der letzten Handbewegung der Schauspieler nicht furchtbar fruchtbare Spinnenkinder wuselig wimmelnd von der Bühne in den Zuschauerraum?

Das Theater Kanton Zürich verbreitet ein Virus, und es ist nicht das übliche, der Erreger Theater. Der neue virale Aktivposten der Wanderbühne ist Elias Perrigs Freilichtinszenierung nach Jeremias Gotthelfs Novelle «Die schwarze Spinne». Die überraschende Beigabe: Die Autorin Dagrun Hintze stellt Gotthelfs Biedermeier-Opulenz auf den schlanken Fuss von zeitgenössischem Theater. Ihre Fassung verzichtet auf Ritterrüstung und fährt dem Publikum mit den Waffen der Unmittelbarkeit ins Hirn.

Mit Gotthelfs böser Saat im Gepäck wird das Theater Kanton Zürich in den nächsten Wochen im Kanton touren. «Die schwarze Spinne» auf öffentlichen Plätzen wird nicht zu übersehen sein – und die Publikumsreaktion nicht zu überhören.

Chill-Faktor positiv

In Elias Perrigs feinziselierter und musikalischer Regie und mit Hintzes bis auf den Kern ausgelösten Vorlage wurde an der Uraufführung in Zollikon aus dem Berner Pfarrer ein hipper Gegenwartsautor. Das kleine, grossartig aufgelegte Team spielte sich frei in einem Well-made-Play. Es ist kein Sakrileg, wenn die Darsteller etwa zum Text von Kate Yanai «Bacardi Feeling» summen. Die Gotthelfsche Gesellschaft ist auch jene, die am italienischen Ferienstrand neben Flüchtlingsleichen chillt.

Diese Dorfgesellschaft allerdings ist lediglich in Gedanken unter Palmen. Man lebt unter der Tyrannei der Mächtigen, die Not soll ein Pakt mit einem Fremden lindern. Auch Christine, die sich als Einzige traut und sich für die Gemeinschaft einsetzt, ist eine Zugewanderte; doch kaum geht ihre Absicht schief, wird sie wieder zur Unperson erklärt. Gotthelf schrieb mit seiner Novelle «Die schwarze Spinne» eine Science-Fiction. Denn nach dem Pakt mit dem Grünen und dem Kuss rächt sich die vom Dorf verratene Frau. Aus dem teuflischen Nest ihrer geküssten Wange verbreitet sie ein tödliches Virus, Spinnen.

Einsam unter Memmen

Bei Perrig werkelt das Gotthelf-Volk leistungsorientiert in der Holzwerkstatt von Beate Fassnacht. Hier kommt das Taufwasser abwechselnd aus einer Pulle Alkohol und einer Mineralwasserflasche. Nils Torpus spielt den Pfarrer, ist aber ein komisches Hasenherz. Und wenn der verheissungsvolle Fremde auftritt (unberechenbar bei Michael von Burg), ist er der Gigolo von anderswo. Er verdreht Christine den Kopf, verständlich, die lokalen Männer sind laue Memmen. Was wäre dieses Stück ohne starke, unabhängige Frau? Bei Katharina von Bock ist sie bestens aufgehoben.

Christines Spinnen, die das Theater Kanton Zürich freisetzt, breiten sich aus in den Handtaschen, Hosentaschen, in der Hochfrisur des Publikums und wandern so ein in unser Zuhause. Sie infiltrieren unsere Gedanken, und die führen zum Schluss: Die Spinne mag die Metapher für einen Tabubruch sein, für einen schleichenden Wertezerfall und Prozess in einer Gesellschaft, die es etwa legitim findet, in Europa neue Mauern zu errichten.

Gotthelfs Menschen konnten leicht auf Mauern verzichten, ihnen half noch Gott. Bei Perrig gibt es diese Hoffnung nicht mehr. Dafür besteht der berechtigte Verdacht, dass eine «Schwarze Spinne» zum viralen Sommerhit wird. Auch wenn das Vergnügen gottlos ist.

Theater Kanton Zürich, auf Tournee bis 15. Juli.