Musik für Fledermäuse

Seit mehr als zwanzig Jahren versetzt das Label Raster-Noton die Musik- und Kunstszene unter Strom. Nun haben sich die Digitalkunstpioniere mit dem «Source Book 1» ein analoges Archiv gebaut.

Bjørn Schaeffner
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 Ein dickes Buch, skulptural verdreht – das «raster-noton. source book 1». (Bild: pd)

Ein dickes Buch, skulptural verdreht – das «raster-noton. source book 1». (Bild: pd)

Jetzt also diese Übersicht. 400 Seiten, 3,3 Kilogramm. Ein wuchtiges Konvolut. Je weiter man sich durch die Bestandesaufnahme des über zwanzigjährigen Schaffens der Musik- und Kunstplattform Raster-Noton blättert – über zahllose Platten, CD, Booklets, Ausstellungen hinweg –, desto mehr macht es den Anschein, als wölbe sich der Buchrücken, als strebten die Seiten nach hinten zur Rundung, als werde das Buch eine Schlaufe. Und im verschlauften Querschnitt wird das Raster-Noton «Source Book 1» tatsächlich auch auf der Homepage des Labels präsentiert.

Kunst nimmt immer wieder neue Formen an. Und der Aufbruch zu neuen Metamorphosen mag der ständige Motor im Wirken der Label-Betreiber sein, die über Raster-Noton sagen: Es sei gar kein Label – sondern eine Idee. Olaf Bender, Frank Bretschneider und Carsten Nicolai hatten zwar keinen Plan, aber instinktiv Radikales im Sinn, als sie vor 21 Jahren begannen, nach einer genuin elektronischen Klangkunst zu suchen. Es galt, einen eigenen ästhetischen Purismus zu entwickeln.

Der Strom fliesst

Bei Raster-Noton geht es immer um Strom. Nicht nur darum, wie elektronische Sounds klingen, sondern auch darum, wie Sounds aussehen könnten. Und wie wir Strom machen. Und was er mit uns macht. Und so agieren diese Künstler in verschiedenen Dimensionen – multimedial, interdisziplinär, mehrbödig. Der asketische Sound findet sein ästhetisches Äquivalent in grafischer Gestaltung – und umgekehrt: Der minimalistischen Präsentation und Verpackung entsprechen die reduzierten Soundschleifen oder die blitzenden Visuals der Liveshows.

Eingeklebt auf den letzten Seiten des «Source Book 1» steckt eine CD, die Labelcompilation «Archiv 4». Darauf sind Tracks von Stammkünstlern wie Grischa Lichtenberger, Kanding Ray, Atom TM und von den Labelmachern Alva Noto (Carsten Nicolai), Frank Bretschneider und Byetone (Olaf Bender). Es sind Tracks, die bald chromblitzend mäandern, bald martialisch wummern, bald fiepen und flimmern. Irgendwann stellt sich beim Hören ein besonderes Gefühl ein: Gänsehaut, angenehm warm, aus der Mitte des Scheitels strahlend. Eine gefühlte Kopfmusik, buchstäblich.

Wo Karl-Heinz Stockhausen postulierte, dass Sound uns verändere, machen die Musiker von Raster-Noton die Probe aufs Exempel: Sie forschen auf der Achse von Körperlichkeit und Entkörperlichung, im Grenzgebiet von Materie und Äther. Carsten Nicolai experimentierte früh mit Frequenzen, die im subliminalen Bereich liegen. Eine japanische Fan-Page trat irgendwann sogar das hübsche Gerücht los, dass sich Nicolai mit Fledermäusen unterhalte. Bei einer Vernissage in Leipzig war die Raster-Noton-Show allerdings so brachial, dass die Lampen der Galerie aus den Halterungen zu fallen drohten. Gäste verliessen fluchtartig den Raum, die Hände auf die Ohren gepresst.

Innovative, neue Musik steht per se unter Krach-Verdacht. Was den einen so verwirrend wie ein Borges-Labyrinth vorkommt, ist anderen ein ewig angestrengtes Klanggewühl. Die experimentelle Elektronik hat auch deswegen den Ruf des Verkopften, weil sie sich öfters im hohen Frequenzbereich abspielt. Sie hat kaum Melodien und Rhythmen. Sie taugt wenig zur Beschallung des Alltäglichen. Sie ist dysfunktional, oft düster. Und doch ist es diese Sparte, die bei vielen, die über Techno mit elektronischer Musik in Berührung gekommen sind, den Horizont erweitert – in Richtung Minimal Music etwa oder zeitgenössischer Klassik.

Neue Dilettantenkultur

Als sich Mitte der neunziger Jahre die Autodidakten Bender, Bretschneider und Nicolai aufmachten, um das Feld der experimentellen elektronischen Musik umzupflügen, kam ihnen das Freiheitsversprechen des Techno gerade recht. Die neue Dilettantenkultur bot Mittel, sich künstlerisch zu entfalten, abseits des Industriekorsetts und der etablierten Vermarktungsstrategien des Pop.

Und ähnlich wie in der sich rhizomartig entwickelnden Techno-Kultur zeigte sich auch bei Raster-Noton: Das Musikgeschäft erweist sich im digitalen Zeitalter als Beziehungsgeflecht. Es geht um den ständigen Austausch und um reziproke Produktionen. Das Netzwerk Raster-Noton beweist einen langen Atem. Man legte in zwei Jahrzehnten Wert auf Nachhaltigkeit und Langzeitwirkung. Das «Source Book 1» fasst aber nicht nur die Label-Geschichte zusammen. Selber ein grossformatiger Brocken, erinnert es daran, wie Musik allgemein entmaterialisiert worden ist.

Offene Versuchsanordnung

Ist das Label, das immer Zukunftsmusik machen wollte, heute selber noch avantgardistisch? Unterdessen mögen jüngere Musiker die Szene prägen. Die experimentelle Elektronik aber erreicht nicht zuletzt dank Labels wie Raster-Noton, die die Zukunft einst angezettelt haben, ein wachsendes Publikum. So ist Raster-Noton heute ein Klassiker der elektronischen Musik. Dem eigenen ästhetischen Futurismus tut das aber keinen Abbruch. Das neue Source Book ist modular angelegt – neue Kapitel sollen folgen. Die Versuchsanordnung bleibt offen, kontrolliert wird sie nur von der eigenen konzeptionellen Strenge. Wie das Buch, das zur Schlaufe wird.

Raster-Noton: «Source Book 1». www.raster-noton.net