Seltsame kleine Momente

Plot ist nicht alles – das legt der Ire Colum McCann angehenden Schriftstellern ans Herz. Er selbst demonstriert die hohe Kunst introspektiven Erzählens in seinem neuen Buch.

Friedhelm Rathjen
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In seinen neuen Erzählungen dringt Colum McCann zur Essenz des Erzählens vor. (Bild: Philippe Matsas/Opale/Leemage)

In seinen neuen Erzählungen dringt Colum McCann zur Essenz des Erzählens vor. (Bild: Philippe Matsas/Opale/Leemage)

Peter Mendelssohn, 82, pensionierter Richter, verwitwet, wacht auf und merkt, dass seine Pflegerin ihm für die Nacht eine Windel angelegt hat. Dies missfällt ihm, doch bald muss er sich eingestehen, dass es nötig war, wie er sich überhaupt eingestehen muss, dass auf seinen Körper kaum noch Verlass ist. Also nimmt er Vorlieb «mit dem, was noch funktioniert – mit Kopf und Herz».

Wobei es mit dem Funktionieren speziell des Kopfes auch nicht mehr gar zu weit her ist. Die Gedanken «schweifen und planen ihren Ausbruch», sie «wirbeln», und nicht immer ist es für den Alten leicht, diesem Wirbeln zu folgen. Wo er nicht mehr recht mitkommt, tröstet er sich mit einem Stossseufzer; aber dann wünscht er sich doch wieder: «Wie schön wäre es, eine Weile nur als Gehirn zu leben.»

Das Leben «als Gehirn» ist die Innenwelt, ein Wirbel aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Wunschprojektionen. «Hin und wieder, in seltsamen kleinen Momenten, ist die Welt gut», gibt der Ex-Richter zu; in wachen Augenblicken stellt er sogar fest, dass das Alter auch seine Vorteile haben kann: «Mit jedem Jahr werden die Frauen schöner. Das ist entweder Genetik oder eine altersbedingte Wahrnehmungsverschiebung.»

Das Auge der Stubenfliege

So sinniert und assoziiert sich der Alte durch den Tag, und wir dürfen sein Innenleben hautnah begleiten in Colum McCanns Novelle «Dreizehn Sichtweisen», dem mit Abstand längsten Text in dem neuen Erzählband «Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?». Daneben aber gibt es auch noch ein Aussenleben, und bei dem sind wir ebenfalls dabei. Mendelssohns ebenso misstrauischer wie gefühlloser Sohn hat in der ganzen Wohnung Überwachungskameras installiert, weitere finden sich vor dem Haus auf der Strasse und in dem Nobelrestaurant, wo der Alte mit dem Sohn zu Mittag verabredet ist.

Was diese Kameras zeigen, erfahren wir in einem zweiten Erzählstrang in den nüchternen Worten eines Protokolls, das die Polizeiarbeit schildert. Der alte Mendelssohn fällt nämlich im Laufe des erzählten Tages einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Mit alternierendem Blick bewegt sich die doppelgleisige Erzählung auf den Mord zu, zum einen in der ahnungslosen Binnenperspektive, die raffiniert zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Ich- und Er-Erzählrede pendelt, und zum anderen in der Rückschau einer Aussenperspektive, die schon um Aufklärung des Verbrechens und Überführung des Mörders bemüht ist.

Wie im Facettenauge einer Stubenfliege, die an einer Stelle des Textes als «Meisterwerk der Evolution» beschrieben wird, weil sie isolierte Einzelbilder zu einer Gesamtrealität zusammenfügen kann, fügen sich auch die unverbunden scheinenden Details dieser Novelle zu einem Ganzen – das allerdings nie ganz glatt aufgeht, sondern Risse, Lücken und Unwägbarkeiten lässt.

Schlank und präzis

Tatsächlich beschreibt McCann die Polizeiarbeit so, dass gleichzeitig das Bild seiner eigenen Arbeit als Schriftsteller entsteht. Dies gilt nicht zuletzt für die Vernehmung des Hauptverdächtigen: «Die Absicht dabei ist, die Absicht zu verbergen.» McCann gelingt es auf unaufdringlich virtuose Weise, uns alles wissen zu lassen, was wir bei der Lektüre zum Verständnis wissen müssen, ohne die dazu dienlichen Details penetrant mit höherer Bedeutung aufzuladen, wie es ihm bei seinen umfangreicheren früheren Arbeiten bisweilen unterlaufen ist.

Die Meisterschaft der «Dreizehn Sichtweisen» liegt in der Verschlankung des (stets selbstsicheren) Stils und der scheinbaren Absichtslosigkeit der erzählerischen Details. In gewisser Hinsicht sind sogar das spektakuläre Thema (immerhin ein Mord!) und das daraus erwachsende Spannungsmoment eine geschickt lancierte Finte – denn eigentlich geht es gar nicht um die Handlung, sondern einzig und allein darum, aus Sprache ein individuelles Bewusstsein entstehen zu lassen. Dies gelingt McCann auf hoch suggestive Weise.

Colum McCann arbeitet in seinen Romanen und Erzählungen oft mit aussergewöhnlichen Handlungen und Einfällen, doch die Qualität seines Schreibens definiert sich nicht darüber. In seinen «Briefen an junge Autoren», die nun ebenfalls auf Deutsch vorliegen, stellt er klar: «Plot ist gut für Filme, bei Büchern führt übermässiger Gebrauch zum Zusammenbruch.» Und: «In Geschichten geht es nicht um den Plot, es geht um Sprache und Rhythmus und Musik und den Stil.» Dazu passt es, dass McCann sich immer wieder auf James Joyce beruft und dessen «Ulysses» als «grossartigsten Roman aller Zeiten» rühmt. Bekanntlich war Joyce der Meinung, das Aussergewöhnliche solle man den Journalisten überlassen, und gestaltete in seinen Büchern lieber das Durchschnitts- oder Alltagsleben.

Was heisst «gewöhnlich»?

McCann hält sich weder in seinen früheren Büchern noch im neusten (das etliche Joyce-Anspielungen enthält) an diese Massgabe; aber im neuen Band wird deutlicher denn je, dass die aussergewöhnlichen Plot-Elemente ihm nur als Aufhänger dienen, um dem Rhythmus des Gewöhnlichen nachzuspüren. Die Protagonistin der Erzählung «Frieden» bemerkt in einer wahrhaft einzigartigen Situation, «wie gewöhnlich und zugleich aussergewöhnlich dieser Augenblick ist». Wenngleich McCann der Meinung ist, jede Menschenexistenz biete erzählenswerte Geschichten, entwirft er im Grunde gar keine Geschichten – er entwirft Existenzen (und damit Perspektiven auf die Welt), die «gewöhnlich und zugleich aussergewöhnlich» sind.

In «Frieden» ist es die Existenz einer alternden Nonne, die Jahrzehnte zuvor in Kolumbien entführt, gefoltert und missbraucht wurde und nun ihren damaligen Peiniger wiedertrifft. In «Sh'kol» (einer Erzählung, die unter dem Titel «Verschwunden» bereits separat im Dörlemann-Verlag publiziert wurde) ist es die Existenz der alleinstehenden Adoptivmutter, die ihren gehörlosen Sohn an der irischen Küste ertrunken glaubt. In der Titelerzählung «Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?» ist es die nur skizzierte und doch sogleich plastisch Gestalt annehmende Existenz einer jungen US-Soldatin in Afghanistan, die im Begriff ist, einen geliebten Menschen in der Heimat anzurufen.

Die Erzählsituationen mögen komplex sein; doch eigentlich tun die Figuren nichts anderes, als mit der «Sprödigkeit der Erinnerung» zu kämpfen und sich zu wünschen, sie könnten «zu der Schlichtheit des ersten Gedankens zurückkehren».

Colum McCann: Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist? Drei Erzählungen und eine Novelle. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2017. 251 S., Fr. 28.90.

Briefe an junge Autoren. Mit praktischen und philosophischen Ratschlägen. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek 2017. 185 S., Fr. 17.90.