Peter Pan muss Härte zeigen

Sein Wahlkampf war erfüllt von Dauerbegeisterung. Doch nun kommt der Augenblick der Wahrheit: Kann Emmanuel Macron das zerrissene Frankreich einen?

Pascal Bruckner
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Hoffnung auf eine versöhnte Welt: Emmanuel Macron hat Erwartungen geweckt, die mit Enthusiasmus allein nicht zu erfüllen sind. (Bild: Christian Hartmann / Reuters)

Hoffnung auf eine versöhnte Welt: Emmanuel Macron hat Erwartungen geweckt, die mit Enthusiasmus allein nicht zu erfüllen sind. (Bild: Christian Hartmann / Reuters)

Emmanuel Macron bleibt für alle Franzosen ein Rätsel. Dem breiten Publikum ist der Jungbanker, den viele mit Napoleon vergleichen, erst seit drei Jahren bekannt. Demnächst wird er als Staatspräsident vereidigt, fast im selben Alter wie Napoleon III., der am 10. Dezember 1848 mit vierzig Jahren zum Präsidenten der Zweiten Republik gewählt wurde. Dank einem kometenhaften Aufstieg hat Macron alle Rivalen hinter sich gelassen und Rechte wie Linke ins Schattenreich verbannt.

Diesen Sieg verdankt er offenkundig seinem Wagemut. Macron hat etwas von einem französischen Kennedy, der alle Grenzen sprengen will. Sein unermüdlicher Optimismus, seine Ablehnung des Niedergangs, seine positive Energie stehen quer zum grämlichen Geist, der das Land beherrscht. Er hat auch gesiegt, indem er auf die Müdigkeit der alten Parteien setzte, auf die Erschöpfung der anderen, sattsam bekannten Kandidaten, auf den geglückten Bruch mit François Hollande. Diesem zollte er am Abend des 7. Mai Tribut, wie ein Brutus, der Cäsar umarmen würde, nachdem er ihn ermordet hat.

Schliesslich besitzt Macron eine Besonderheit: Er hat seine 24 Jahre ältere Französischlehrerin geheiratet, Brigitte Trogneux. So kehrt sich das Klischee um: Während für gewöhnlich Fünfzigjährige mit Frauen ausgehen, die so alt sind wie ihre eigenen Töchter, stösst Macron das Beziehungsgefüge zwischen den Generationen um, blickt mit Zärtlichkeit zu den Älteren auf und erhält seinerseits starken Zuspruch von ihnen. Sagte nicht Julien Dray, ein Apparatschik des Parti socialiste, Macron sei ein «Senioren-Aufreisser»?

Hoffen auf eine versöhnte Welt

Doch scheinen all seine Trümpfe zugleich auch Handicaps zu bilden. Ein Teil seines Erfolgs rührt nicht nur von seinem unbestreitbaren Talent her, sondern auch von einer geschickt gepflegten Vagheit. Was bei ihm begehrenswert erscheint, ist nicht – wie bei seinem sozialistischen Rivalen Benoît Hamon – die Zukunft, sondern seine eigene Person, die sich als Objekt aller Begierden anbietet. Um es bündig zu formulieren: Macron – und darin liegt seine Ambiguität – weckt die verrückt verführerische Hoffnung auf eine versöhnte Welt, in der das Böse ein blosses Missverständnis wäre, wo der Wolf sich mit dem Lamm verbrüdern könnte und wo Frankreichs lange Zeit entzweite Familien dank der Ausstrahlung ihres Präsidenten einander endlich wieder näherkommen könnten.

Macron träumt davon, Rechte und Linke zu versöhnen, was die Voraussetzung jeder erfolgreichen Wahlkampagne ist. Aber man weiss nicht recht, ob es ihm dabei um eine Synthese neuer Art geht oder bloss darum, dem Dualismus zwischen den politischen Polen auszuweichen. Das treibt ihn dazu an, die Gegensätze vereinen zu wollen: die Befürworter der Schwulenehe und ihre Gegner, jene, die die Verbrechen der Kolonialisierung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit halten, und jene, die die «Kultur der Bussfertigkeit» verachten.

Macron erklärt, es gebe keine französische Kultur, preist zugleich aber das Bauerbe. Mit ihm könnten Burkini und Topless, Uberisierung und Sozialschutz in gutem Einvernehmen koexistieren. Es gäbe keine sozialen Spannungen mehr, denn der geliebte Leader absorbierte sie alle. Von daher rührt auch sein grammatikalischer Tick, seine dauernd gebrauchte Formulierung «et en même temps» («und zugleich»), die zu einem Gimmick der Kampagne geworden ist, erlaubt er doch die Versöhnung der Gegensätze. Diese Allergie gegen Entscheidungen, die in Worten fasziniert, ist in Taten nur schwer tragbar. Ein Politiker kann sich nicht lang dem Gebot entziehen, widersprechen zu müssen. Es kommt ein Moment, da er Position beziehen und Partei ergreifen muss.

Berauscht von sich selbst

Während seiner ganzen Kampagne scheint Macron die Liebe zur Macht mit der Macht der Liebe verwechselt zu haben. Er will gewählt werden, vor allem aber geliebt, in einem Akt der bedingungslosen Kapitulation. Und mehr noch als geliebt: Er will, dass man ihn allen anderen vorzieht. So beginnt er als guter Verführer damit, uns zu sagen, dass er uns liebe. Diese Erklärung verleiht seiner Person eine Art mystische Ausstrahlung.

Doch die ekstatischen «Ich liebe euch»-Rufe, die er in Veranstaltungen seinen Anhängern zuwarf, sagen vor allem dies: «Ich liebe mich selbst in euch.» Idolatrie durch die Menge als eine Art überhöhter Orgasmus: Im Affekt bricht die Stimme, werden die Spitzentöne schwach – Symptome einer überbordenden Wonne gegenüber einem Publikum, das seinerseits in Verzückung gerät. Der von sich selbst berauschte Präsidentschaftsanwärter sparte nicht mit flammenden Erklärungen und brennenden Schwüren. Die Kampagne war von einem Dauerfieber erhitzt.

Barack Obama, selbst ein Charismatiker, wusste als Vorbedingung der Machtausübung eine gewisse Distanz zu wahren. Macron hingegen vermittelte oft den Eindruck, er suche mit Frankreich physisch zu verschmelzen. Ohne Rückhalt gab er sich der Trunkenheit der Gefühle hin. Frankreich sollte sich nach ihm verzehren, denn er ist Schamane, Heiler und Anführer in einem. Als glücklicher Narziss gab er seiner Bewegung En marche die Initialen seines Vor- und Nachnamens.

Nicht von ungefähr unterhielt er eine besorgniserregende Konfusion zwischen dem Geistlichen und dem Weltlichen. So berief er sich auf Jeanne d’Arc, die auf ihr Schlachtross sprang, um die Engländer aus dem Land zu jagen, und wollte in sich selbst eine christliche Dimension erkannt haben. Die Verbindung von Jesus, Politik und Geschäft treibt jenseits des Atlantiks wilde Blüten: Während der Kampagne machen Kandidaten dort gern ein Kreuz, schwören auf die Bibel. Aber den Franzosen missfallen solche widernatürliche Verkupplungen. Unsere Tradition lehrt uns, nicht zu verwechseln, was Gottes ist und was des Kaisers. So wäre es ratsam, nicht die Bodenhaftung zu verlieren, will man nicht als ein schlichter Bankier gelten, den der Glaube berührt hat.

Jetzt, da der Sieg errungen ist – aber ein Sieg, der so wunderbar wie bitter ist, konnte der Front national doch fast elf Millionen Wähler verführen –, gilt es, die Parlamentswahlen im Juni zu gewinnen, das Programm in Zahlen zu übertragen, triviale Detailfragen zu beantworten, sich mehr oder weniger dem Realitätsprinzip unterzuordnen. Schluss mit den lyrischen Aufschwüngen, den inspirierten Fernsehprediger-Posen. Fortan muss der neue Präsident über alles Rechenschaft ablegen, nichts wird ihm verziehen.

Im Gewand des Predigers

Unterhält Macron tatsächlich Beziehungen zum Extremisten Tarik Ramadan, wie ihm Marine Le Pen vorwarf, zur Union des organisations islamiques de France, einer Organisation der Muslimbrüder? Welche Position vertritt er bezüglich der Integration des Islams in Frankreich? Die drei grossen Herausforderungen, mit denen die Staatsmacht heute konfrontiert ist – die hohe Arbeitslosenzahl, der Anstieg des koranischen Fanatismus und die Feindseligkeit eines Neo-Populismus, den Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon verkörpern –, erheischen eine Charakter- und Willensstärke, von denen man nicht weiss, ob unser nationaler Peter Pan sie besitzt.

Er hat mit Höflichkeit und einer Spur Herablassung die Fernsehdebatte mit der Kandidatin des Front national gewonnen, die da wieder zur Tochter ihres Vaters wurde: vulgär, beleidigend und dummdreist. Als Präsident sollte Macron das Gewand des Predigers und Rockstars gegen jenes des Soldaten der Demokratie eintauschen. Es gälte, sich des tragischen Charakters der Geschichte bewusst zu werden und ein zerrissenes Frankreich zu einen.

Mehrere Gefahren drohen ihm freilich. Sollte En marche die klassische Rechte und Linke vernichtend schlagen, wird Macron den Extremisten an beiden Rändern des politischen Spektrums allein gegenüberstehen. Bestrebt, die Arbeitsgesetzgebung zu lockern und Blockaden des Arbeitsmarktes aufzuheben, hat Macron versprochen, mit Verfügungen zu regieren – woran die Gewerkschaften und die Ultralinke ihn hindern wollen. Erste Demonstrationen fanden bereits am 7. Mai statt.

Das Gespenst des Generalstreiks geht um, wie jedes Mal, wenn ein Regierender eine Reform in Angriff nehmen will. Frankreich ist insofern bemerkenswert, als es seinen Konservatismus in das Sprachgewand der Revolutionäre kleidet. Sollte das Land am Sommeranfang blockiert sein – wird Macron dann dem Druck der Strasse, den Randalierern, der Gewalt widerstehen können? Oder wird er, wie all seine Vorgänger, nachgeben? Wird dieser elegante, beflissene junge Mann eine Thatchersche Dimension offenbaren? Fortsetzung folgt.

Der Romancier und Essayist Pascal Bruckner lebt in Paris. Im Februar ist im Verlag Grasset sein Buch «Un racisme imaginaire. La querelle de l’islamophobie» erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von zit.