Frei sein heisst nicht modernistisch sein

In zwei Neuerscheinungen konturiert sich die aktuell anmutende Kulturkritik des französischen Schriftstellers Charles Péguy (1873–1914).

Michael Stallknecht
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Streitbarer Querkopf: Charles Péguy (1873–1914) in seiner Pariser Buchhandlung. (Bild: Albert Harlingue / Roger Viollet / Keystone)

Streitbarer Querkopf: Charles Péguy (1873–1914) in seiner Pariser Buchhandlung. (Bild: Albert Harlingue / Roger Viollet / Keystone)

Liest man in diesen Zeiten «Das Geld» von Charles Péguy, dann wüsste man gern, was der Autor zum jüngsten französischen Wahlkampf gesagt hätte. Denn einerseits beschwor Péguy so vehement das Volk als politische Grösse, wie es unlängst in Frankreich vor allem rechts wie links aussen geschah. Andererseits war für den Schriftsteller die Berufung auf ebendieses Volk schon im Erscheinungsjahr seiner Schrift, 1913, eine leere Sprachfigur, «Wahlkampfliteratur», wie es in der Neuübersetzung von Alexander Pschera heisst.

Péguy diagnostizierte eine zuvor unvorstellbar plötzliche Veränderung der Welt, in der das klassische Arbeitsethos oder die Volksfrömmigkeit «von der Wirtschaft stranguliert» worden seien. Es klingt wie Kapitalismuskritik der Gegenwart, wenn er schreibt: «Heute spricht man nur von der Gleichheit. Und wir leben in der ungeheuerlichsten ökonomischen Ungleichheit, die man in der Weltgeschichte jemals gesehen hat.»

Rezeption heute

Diese fast unvermittelt wirkende Aktualität der Fragestellungen sorgt wohl auch dafür, dass der 1914 im Ersten Weltkrieg gefallene Charles Péguy heute in Frankreich von den unterschiedlichsten Lagern rezipiert wird. Die Zeiten sind vorbei, in denen er vor allem als Mann der Rechten galt. Der linksintellektuelle Alain Badiou beruft sich ebenso gern auf ihn wie der eher konservative Alain Finkielkraut.

Im deutschsprachigen Raum dagegen ist sein Name beinahe verhallt. Ändern könnte das nicht nur die Neuübersetzung von «L'Argent», die bei Matthes & Seitz erschienen ist, sondern auch eine von Hanser verlegte Biografie. Joseph Hanimann, Frankreich-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung», präsentiert Péguy mit merklicher Sympathie als einen Querkopf, der «mit seinen sperrigen Gedankengängen unsere eingespielten Problemperspektiven aus dem Konzept» bringe.

Geboren 1873 in Orléans, der Stadt der Jeanne d'Arc, bestand Péguy bereits als Schüler auf dem Recht auf eigene Meinung – und er brach das Studium an der schon damals karrierefördernden Ecole normale supérieure in Paris unvermittelt ab. In der Dreyfus-Affäre verteidigte er den zu Unrecht inhaftierten Hauptmann gegen Nationalismus und Antisemitismus und schloss sich der sozialistischen Bewegung an. Später wandte er sich intensiv dem Katholizismus zu und äusserte sich in den heraufziehenden Spannungen mit Deutschland seinerseits in nationalistischen Tönen.

Bei Hanimann erscheint das alles allerdings gar nicht so widersprüchlich, wie es zunächst scheinen mag. Für ihn ging Péguy immer von der konkreten menschlichen Lebenswirklichkeit aus und musste deshalb die dogmatische und ideologische Verfestigung aller Positionen verwerfen.

Je mehr sich die Sozialisten zur Partei ausformten und selbst Macht in Frankreich übernahmen, desto schärfer wandte sich der streitsüchtige Péguy gegen Parteitaktik und das Aushandeln in den Hinterzimmern der Macht. Mit derlei wurden die Genossen für ihn selbst zum Teil jener Bourgeoisie, die in seinen Augen das alte Frankreich zerstört hatte.

Aber auch von der katholischen Kirche forderte Péguy eine stärkere Orientierung an der menschlichen Lebenswirklichkeit, womit er für viele zum Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils geworden ist. Selbst den Nationalismus Péguys deutet Hanimann als konkrete Wendung gegen ein zunehmend imperialistisch und militaristisch auftretendes Deutschland, dem gegenüber Péguy der Pazifismus der Linken kurzsichtig schien. Die realpolitischen und geistesgeschichtlichen Hintergründe der Zeit blendet Hanimann immer wieder mit leichter Hand in seine dichte, sehr farbig geschriebene Biografie ein.

Der französische «Unzeitgenosse» bleibt auch in der Gegenwart ein Anstossgeber für alle, die ein Unbehagen am reibungslosen Fortschritt verspüren.

Kernstück seines Werks bleiben wohl die «Cahiers de la Quinzaine», die Péguy zwischen 1900 und 1914 im Zweiwochenrhythmus jeweils im Umfang eines Buches herausbrachte und in denen auch der Geld-Essay ursprünglich erschienen ist. Péguy suchte sich von Werbeanzeigen unabhängig zu machen, um sich einer bedingungslosen Wahrheitssuche hingeben zu können. Als Begegnungsort für «alle, die nicht betrügen», sollten in den «Cahiers» auch einander diametral entgegensetzte Meinungen veröffentlicht werden.

Kein Reaktionär

Péguy selbst arbeitete sich zunehmend an einer Moderne ab, die ihm in vielem selbstwidersprüchlich erschien. Hinter dem beschworenen Neuen sah er oft nur älteste Hüte, hinter den sich als objektiv beschreibenden Wissenschaften ein neues Glaubenssystem, hinter der eingeforderten Toleranz eine respektlose Indifferenz und im Liberalismus nur neue Sachzwänge. «Freiheitlich sein bedeutet genau das Gegenteil von modernistisch sein, und nur durch einen unglaublichen Missbrauch der Sprache kommen wir dazu, beide Begriffe zu verwechseln», schreibt er in «Das Geld».

Aber auch den Anwälten des Reaktionären weist er darin nach, längst selbst nur modernistisch zu argumentieren. Für Hanimann besteht der entscheidende Unterschied Péguys zu den Reaktionären darin, dass der Essayist nie dem «nationalistischen, populistischen, esoterischen oder künstlerischen Irrationalismus verfallen wäre, wie er in jenen Jahren zu blühen begann». Deshalb bleibt der französische «Unzeitgenosse» für ihn auch in der Gegenwart ein Anstossgeber für alle, die ein Unbehagen am reibungslosen Fortschritt verspüren, aber auf die sich stellenden Fragen «keine fertigen Antworten» haben.

Joseph Hanimann: Der Unzeitgenosse. Charles Péguy – Rebell gegen die Herrschaft des Neuen. Carl Hanser, München 2017. 240 S., Fr. 25.50. Charles Péguy: Das Geld. Aus dem Französischen und mit einem Vorwort von Alexander Pschera. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 137 S., Fr. 21.90.