In diesen Worten kann man wohnen

Kaum länger als eine Novelle präsentiert sich Graham Swifts neuer Roman, «Ein Festtag». Luzid und sinnlich geschrieben, ist das Buch auch ein Fest für die Leserschaft.

Thomas David
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So fest der Herrensitz in Graham Swifts Erzählung steht – der Schriftsteller lässt die Strömungen spürbar werden, die das alte Wertesystem untergraben. (Bild: United Archives / Keystone)

So fest der Herrensitz in Graham Swifts Erzählung steht – der Schriftsteller lässt die Strömungen spürbar werden, die das alte Wertesystem untergraben. (Bild: United Archives / Keystone)

Ein sonnendurchflutetes Zimmer und die Schatten der Fenstersprossen, die am Muttertag des Jahres 1924 über einen nackten Körper streifen. Der Gesang der Vögel vorm Haus. Das mittägliche Läuten der Kirchenglocken, das mit der warmen Luft durchs offene Fenster ins Zimmer weht. Der süsse Geruch von Schweiss und das feine Rinnsal von Pauls Samen, das «zusammen mit ihrer eigenen Nässe» aus Jane herausfliesst.

Jane ist die Hauptfigur des neuen, kaum mehr als 140 Seiten langen Romans von Graham Swift: In «Ein Festtag» schildert der 1949 in London geborene Schriftsteller nicht nur die Intimität der heimlichen Begegnung zwischen dem 22-jährigen Dienstmädchen Jane Fairchild und dem ein Jahr älteren Paul, dem nonchalanten Sohn der begüterten, mit Janes Arbeitgeber befreundeten Sheringhams. Er zelebriert auch die Erotik einer nahezu körperlich anmutenden, die subtilsten Sinneseindrücke in sich aufsaugenden Sprache, die in jedem Moment des Erzählens einer intensiven Daseinserfahrung nachspürt, um letztlich «genau das einzufangen», wie es am Ende des Romans heisst, «was Lebendigsein bedeutete».

Ein Tag als Spiegel der Zeiten

Swift erzählt, wie Paul nackt durch sein Zimmer geht und nach dem Zigarettenetui greift. Wie die auf dem Bett ausgestreckte Jane seine Bewegungen beobachtet und der feine Schmerz der Melancholie, die erste Ahnung des bevorstehenden Abschieds, ihr Glücksempfinden trübt. Er erzählt, wie sich Paul ankleidet, um zu einem Treffen mit seiner Verlobten aufzubrechen, mit der ihn weniger eine tiefe Liebe als der gesellschaftliche Status verbindet. Swift erzählt auf faszinierend unprätentiöse, jegliche stilistische Attitüde vermeidende Weise, wie die in einem Waisenhaus aufgewachsene Jane nach Pauls Aufbruch nackt durch das am Festtag gänzlich verlassene Anwesen streift und nur die Zimmer von Pauls im Krieg getöteten Brüdern meidet. Wie sie später ihr Fahrrad nimmt und durch die herrliche, frühsommerliche Landschaft der Grafschaft Berkshire zurück nach Beechwood fährt, wo ihr Arbeitgeber Mr. Niven ihr die schreckliche Nachricht eröffnet, die Janes Leben eine plötzliche Wendung gibt.

Was sich wie eine altbekannte, auf den ersten Blick unzeitgemäss anmutende Geschichte einer an den unüberwindbaren Grenzen sozialer Konventionen scheiternden Liebe ausnimmt, ist tatsächlich ein raffiniertes literarisches Bravourstück, in dem Swift die Gesetze von Zeit und Raum aushebelt und die kristallklare Schilderung dieses einen Sonntags zum Spiegel von Janes Vergangenheit und ihrer Zukunft als gefeierte Schriftstellerin macht.

«Ein Roman hat die besondere Fähigkeit, dass sowohl Autor als auch Leser ihn wieder bewohnen, wieder in ihm leben können», so Swift im Vorwort einer Neuausgabe von «Waterland», seinem längst zum Klassiker der englischen Gegenwartsliteratur avancierten dritten Roman: «so als sei er trotz seiner immensen Begabung für den Umgang mit Zeit, Veränderung, Geschichte und Erinnerung eigentlich darauf aus, ein permanentes Präsens zu schaffen und zu bewahren».

Der Umgang mit Zeit und Veränderung; der mächtige Strom der Vergangenheit, der nicht allein in «Waterland» jeden einzelnen Moment der Gegenwart unterspült und sich in den Erinnerungen seiner Erzähler zu einer Geschichte staut: In dem 2008 entstandenen Essay skizziert Swift nicht nur einige der zentralen Themen, um die sein Werk seit je kreist. Mit dem «permanenten Präsens» benennt er zudem den imaginären Fluchtpunkt, auf den sein Schreiben ausgerichtet ist, «diese undefinierbare Zone zwischen dem Vergangenen und dem Kommenden», wie es in «Waterland» heisst: «diese schwebende, luftige Gegenwart», deren flüchtiges Momentum er in «Ein Festtag» derart ausdehnt, dass Janes ganzes beinahe hundertjähriges Leben darin Platz findet.

Reverenz an Virginia Woolf

Der in der deutschen Ausgabe unterschlagene Untertitel «A Romance» spielt nicht zuletzt auf den für seine präzisen Gattungsbezeichnungen bekannten, 1924 verstorbenen Joseph Conrad an, dessen Werk Jane in Mr. Nivens Bibliothek entdeckt. Mit seiner kunstvollen Verschränkung verschiedener Zeit- und Realitätsebenen aber erinnert Swifts «Festtag» eher an Virginia Woolfs im Herbst 1924 vollendetes Meisterwerk «Mrs. Dalloway», in dem Woolf ebenfalls die Gegenwart eines einzigen Tages und die gewaltige Dimension des Augenblicks vermisst.

Swift verortet seinen Roman also nicht nur in einem historischen Moment des gesellschaftlichen Wandels, in dem der «Mothering Sunday» des Originaltitels von den Erinnerungen an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Söhne überschattet wird und die von den Sheringhams und Nivens nur mehr als Ritual bewahrte alte Ordnung vor einer Umwälzung steht, die schliesslich auch Jane den sozialen Aufstieg ermöglicht. Indem er «Ein Festtag» in einer Phase der literarischen Erneuerung spielen lässt, im Moment der Ablösung des traditionelleren edwardianischen Romans durch die Moderne, verleiht er Janes späterer Entwicklung zu einer als «schwierig» geltenden, «modernen» Schriftstellerin zusätzliche Schwungkraft; zudem schafft er die Voraussetzungen für ein differenziertes, zeitgemässes Nachdenken über ihr Schreiben, mit dem Swift wohl auch die eigene Poetik reflektiert.

Den Nerv treffen

Swift feiert in «Ein Festtag» die betörende, am Muttertag 1924 in Jane zum Leben erweckte Verführungskraft der Sprache. Er durchkreuzt die Chronologie dieses einen, ihr ganzes Leben prägenden Tages einerseits mit skizzenhaft angedeuteten Rückblicken in Janes Kindheit und mit Spekulationen über ihre im Dunkeln liegende Herkunft; anderseits mit kurzen, präzise eingeführten Ausblicken auf ihr langes, einen umfangreichen Entwicklungs- und Künstlerroman rechtfertigendes Leben, das sich jedoch im permanenten Präsens von «Ein Festtag» auf vollkommene Weise erfüllt.

«Erzählen, Geschichten erzählen. Immer war da die Annahme, dass man Lügen verbreitet», wie es an einer Stelle über Jane heisst: «Aber ihr Anliegen war es immer gewesen, den Nerv, das Herz, den Kern, das Mark zu treffen.» Mit «Ein Festtag» wird Graham Swift Janes hohen Ansprüchen gerecht, und er legt nach «Waterland» und dem 1996 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman «Letzte Runde» ein Buch vor, mit dem er sich wie seine Protagonistin «dem Stoff des Lebens in die Arme» wirft und seinen Ruf als einer der herausragenden Schriftsteller der britischen Gegenwartsliteratur bestätigt: «Manche Dinge, manche Orte erhalten eine wahrhaftigere Existenz in der Vorstellungskraft.»

Graham Swift: Ein Festtag. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2017. 144 S., Fr. 26.50.